Hinter den Barrikaden

Ein Vortrag über eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg

Im Herbst 2015 begann die Belagerung mehrheitlich kurdischer Städte im Südosten der Türkei durch Einheiten der türkischen Polizei und des Militärs.

In Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung wurden sogenannte Ausgangssperren verhängt, hunderte Zivilist*innen verloren durch Scharfschützen-, Artillerie- und Panzerfeuer ihr Leben. Ganze Innenstädte wurden vollkommen zerstört. Hunderttausende Menschen verloren ihr Zuhause und mussten fliehen. Fünf Journalist*innen vom Lower Class Magazine waren im Frühjahr dieses Jahres vor Ort und haben mit Betroffenen gesprochen und sich selber ein Bild gemacht. Davon berichten sie am 4. Oktober und zeigen den Film, den sie dort gemacht haben.

Fast jede Woche passieren in der Türkei und in den kurdischen Regionen neue Verbrechen und menschengemachte Katastrophen. Was heute in der Zeitung erscheint, ist morgen schon veraltet. Immer wieder wird der Fokus auf neue Objekte der Berichterstattung gerichtet. Vor einiger Zeit begannen etwa Massenmedien und Politiker*innen bis weit ins bürgerliche Spektrum hinein Interesse zu entwickeln, als Milizen des IS die mehrheitlich kurdisch besiedelte, in Nord-Syrien gelegene Stadt Kobanê belagerten.

Wenige Monate später aber war alles anders. Seit Ende 2015 ist es nicht mehr der IS, der kurdische Städte belagert und Zivilist*innen tötet. Und die kurdischen Städte, die nun mit Hubschraubern, Artillerie und Panzern in Schutt und Asche gelegt werden, liegen nicht in Syrien. Es sind Städte wie Cizre, Diyarbakır, Yüksekova und Nusaybin, die militärisch „gesäubert“ werden sollen und diejenigen, die da „säubern“, sind keine selbsternannten „Kalifen“, sondern enge Partner*innen der deutschen Bundesregierung, der EU und der NATO. Die Rede ist von der türkischen Regierung unter Erdoğan und seiner AKP.

Massaker, systematische Vertreibungen und zahllose Verbrechen der türkischen Sondereinsatz­einheiten – gegenüber all dem werden die Augen geschlossen. Es reicht ein nicht allzu kompliziertes Gedankenexperiment: Man vergleiche zuerst das, was Recep Tayyip Erdoğan und sein (mittlerweile: Ex-) Premier Ahmet Davutoğlu in Nordkurdistan (auf kurdisch: Bakur) den Menschen antun, mit den Übergriffen des Assad-Regimes zu Beginn der Aufstände in Syrien – und dann vergleiche man die Reaktionen des Westens. Viele Hundert Zivilist*innen verloren ihr Leben, ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, Hunderttausende Kurd*innen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Und noch kein westlicher Staatschef hat Sanktionen gegen das AKP-Regime erwogen oder lässt sich zu der Forderung „Erdoğan muss weg“ hinreißen.

Das Kernprojekt von Bundeskanzlerin Angela Merkel – die Bewältigung der sogenannten „Flüchtlingskrise“ durch einen schäbigen Kuhhandel mit Ankara – brachte eine neue außenpolitische Konstellation hervor, in der Ankara innen- wie außenpolitisch kaum noch „Kritik“ aus Europa zu fürchten hat. Im Gegenteil: Deutschland intensivierte die Verfolgung von politischen Gegner*innen Erdoğans auch in der BRD. Vermeintliche PKK-Aktivist*innen wurden wieder vermehrt festgenommen, und Delegationen von Bundespolizei und Geheimdiensten machten sich auf den Weg nach Anatolien, um eine bessere „Koordination des Anti-Terror-Kampfes“ zu ermöglichen. Zwar erschienen auch in auflagenstarken Blättern bisweilen gute Reportagen zum Thema, insgesamt wurde der brutale Krieg Erdoğans gegen „seine“ Bevölkerung aber nicht skandalisiert, sondern firmierte unter „ferner liefen“. Im besonders reaktionären Teil der Presselandschaft bekamen verhaftete (vermeintlich) kurdische Aktivist*innen zudem wieder das Label „Terrorist*in“ angeheftet.

Auch die deutsche Linke, die noch während des Widerstandes in Kobanê eine rege Solidarität entfaltet hatte, tat sich schwer, die Bedeutung und das Ausmaß des Krieges im Geburts- und Kernland der kurdischen Befreiungsbewegung zu verstehen. Größere Kampagnen zur Unterstützung des Widerstandes der bewaffnet kämpfenden Zivilverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Sivîl) blieben aus. Die Demonstrationen gegen den Krieg der türkischen Besatzungsmacht gegen die kurdische Autonomie erreichten nicht die dem Thema angemessene Stärke. Dabei handelt es sich bei dem Widerstand gegen den Versuch der türkischen Regierung, die kurdische Bewegung wenn nicht völlig auszulöschen, so dann doch als ernstzunehmende Kraft zu zerschlagen, um einen der bedeutendsten Kämpfe der globalen Linken. Aus kaum einem anderen politischen Projekt kamen in den vergangenen Jahren vergleichbar starke theoretische und praktische Impulse zum Wiederaufbau einer kämpferischen, revolutionären Linken wie aus der kurdischen Bewegung.

Geht Erdoğans Plan einer vollständigen „Säuberung“ des Südostens der Türkei auf, gefährdet das nicht nur das bereits in Rojava Erreichte. Es wäre ganz sicher ein schwerer Schlag für die politische Linke in der Türkei, aber auch für die Linke im Allgemeinen. Hält sich allerdings der Widerstand und vertieft sich, wird er Risse und Brüche im System erzeugen und eine Perspektive auch für die demokratischen und linken, revolutionären Kräfte im Rest der Türkei öffnen. Es geht in diesem Kampf also um viel.

Hinter den Barrikaden

Vortrag von Lower Class Magazine mit Film und Diskussion
Di. 4. Oktober // 20 Uhr // Hinterhof - Linkes Zentrum // Corneliusstr. 108
Eine Veranstaltung von Akkustan in Kooperation mit YXK Düsseldorf