Proletarisches Trauerspiel

Was tun gegen die Anschluss-Fähigkeit des Rechtspopulismus bei Lohnabhängigen?

Wenn hierzulande eine gestrenge Domina auf einem AfD-Plakat wutbürgerliche Wähler*innen agitiert, indem sie halluzinierend fordert „Hol Dir Dein Land zurück!“, dann ist das ein Grund dafür, dass 15 Prozent der abstimmenden Gewerkschaftsmitglieder und gar 21 Prozent der votierenden Arbeiter*innen die völkisch-populistische Alternative für Deutschland (AfD) wählen. Da dieses proletarische Trauerspiel bei der Bundestagswahl 2017 zu betrachten war, gibt es seit einiger Zeit den Sammelband „Arbeiterbewegung von rechts?“, in dem engagierte Sozialwissenschaftler*innen sich mit dem gesellschaftlichen Phänomen namens Rechtspopulismus beschäftigen, um herauszufinden, warum er für die „Arbeiterschaft“ attraktiv ist und was dagegen getan werden kann.

Obgleich man als Leser*in zuweilen durch den elaborierten Soziolog*innenjargon – wie etwa „abwärtsmobile Flugbahnen“ – arg strapaziert werden mag, gelangt man beim Studium des zentralen Beitrags von Klaus Dörre (S. 49 ff.) zu der praxisrelevanten Erkenntnis, dass die „Resonanzfähigkeit des Rechtspopulismus“ bei einer großen Minderheit der Lohnabhängigen ihren Grund in der rechtspopulistischen „Neuinterpretation der sozialen Frage“ hat. Denn die AfD-Ideolog*innen deuten die vertikale soziale Frage hurtig um in eine horizontale, indem sie sie ethnisieren. Auf diese Weise wird der real existierende Gegensatz zwischen den Reichen oben, die Produktionsmittel besitzen, und den Armen unten, die bloß ihre Arbeitskraft besitzen, eskamotiert, um an die Stelle dieses Klassengegensatzes konstruierte „Konflikte zwischen innen und außen, zwischen Migranten und einem als kulturell homogen vorgestellten deutschen Volk“ treten zu lassen. Dieser „völkischen Umdeutung“ der sozialen Frage stimmen etliche Lohnabhängige zu, weil in ihrem rechtsaffinen Alltagsbewusstsein „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ wirkungsmächtig ist, die sich gegen (Flucht-)Migrant*innen richtet, deren (halluzinierter) „Landraub“ gestoppt werden müsse. Bereits 2016 diente dieser üble Sachverhalt dem AfD-Ideologen Höcke als Anlass dazu, aus einem Ideologem einer Minderheit ein gesellschaftliches Faktum zu konstruieren, indem er schwadronierte: „Die neue deutsche Soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.“ (S. 71)

Weil aber der Anteil der wahlberechtigten Arbeiter*innen mit AfD-Präferenzen mittlerweile bei 34 Prozent liegt, womit die AfD deutlich vor der Linkspartei (22 Prozent), der SPD (17 Prozent), der CDU (16 Prozent), der FDP (11 Prozent) und den Grünen (9 Prozent), aber knapp hinter den Nichtwählern (39 Prozent) rangiert (S. 69), schlägt Soziologieprofessor Dörre vor, die „rechtspopulistische Rebellion“ mittels einer „inklusiven demokratischen Klassenpolitik“ einzudämmen, in deren Zentrum die Interessenvertretung aller Lohnabhängigen – seien sie Eingeborene oder Migrant*innen – stehen müsse (S. 73 f.). Dabei komme es letztlich darauf an, den Rassismus, der die Basis des „völkischen Populismus“ ist, „nicht nur zu kritisieren, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, die ihn hervorbringen“ (S. 75). Ob das allerdings gelingt, indem „wir“ (sic!) alles daransetzen, durch Reformen „soziale Gerechtigkeit“ innerhalb der herrschenden Marktwirtschaftsgesellschaft zu etablieren, ist zumindest fraglich. Denn in dieser Gesellschaftsformation wütet, was Dörre weiß, der „Mahlstrom des Marktes“ (S. 72), der die lohnabhängigen Menschen zu kostengünstigem „Humankapital“ macht, um den Betriebsgewinn der Produktionsmittelbesitzer durch Erzeugung von Waren oder Dienstleistungen zu maximieren.

Eingedenk dessen legt Martin Kronauer, Professor für Gesellschaftswissenschaft, in seinem Beitrag des Sammelbandes (S. 81 ff.) dar, dass hinter der Fassade des frommen Wunsches vieler Lohnabhängiger nach „sozialer Gerechtigkeit“ die weiterreichende Stoßrichtung erkannt werden müsse, die sich gegen die kapitalistische Produktionsweise richte. Zur Veranschaulichung zitiert er Karl Marx, der sich 1850 mit der proletarischen Gerechtigkeitsforderung nach einem „Recht auf Arbeit“ befasste: „Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Recht auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses.“ (S. 83)

Indem sich antikapitalistische Linke dergestalt der „Ungerechtigkeitserfahrungen“ der lohnabhängigen Bevölkerung annehmen, könnte der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD beendet werden. Klassenpolitik erschöpft sich nämlich nicht darin, die völkisch-nationalistische AfD-Ideologie zu kritisieren. Es kommt überdies darauf an, den Kampf gegen die AfD in den hiesigen Produktionsstätten zu organisieren.

Franz Anger

Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte Karina Becker, Klaus Dörre, Peter Reif-Spirek (Hg.)
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018
359 Seiten, 24,95 Euro