Erst Fehler, dann Tragödie

Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) „Kleve“ haben wir Anfang Oktober erfahren können, wie banal der „Fehler“ gewesen sein soll, der im Sommer 2018 zur unrechtmäßigen Inhaftierung von Amad Ahmad führte. Zu über zwei Monaten Haft, an deren Ende Amad Ahmad tot war. Verbrannt in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Kleve.

Ende Oktober 2019 schwappte eine irritierende Nachricht durch die öffentlich-rechtlichen Medien in NRW. Im Aufmacher des WDR-Fernsehmagazins „Aktuelle Stunde“ vom 22.10. hieß es: Hintergrund für eine Neuentwicklung im nordrhein-westfälischen Strafvollzug sei der „mögliche Selbstmord des Syrers Amad A.“. Der 26-Jährige „starb nach zweieinhalb Monaten im Gefängnis nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve“. Justizminister Peter Biesenbach setze nun aber „auf intelligente Kamerasysteme“, weil er „künftig Anzeichen für einen möglichen Suizid früher erkennen“ wolle.

CDU-Mann Biesenbach, seit Juni 2017 an der Spitze des NRW-Justizministeriums, berichtete sodann vor laufender Kamera darüber, dass sein Ressort eine Menge Geld in die Hand genommen habe, um ein Kamera-Überwachungssystem für Gefängniszellen entwickeln zu lassen, das Gefahren erkennen könne. Wenn in den Hafträumen etwa bestimmte Gegenstände zu sehen seien oder besondere Verhaltensweisen vom Kamera-Auge beobachtet würden, schlügen die intelligenten Kameras künftig Alarm. Ziel sei es, Suizide von Inhaftierten zu verhindern, Anzeichen, die auf einen kurz bevorstehenden Selbstmordversuch hindeuteten, zu erkennen und rechtzeitig einschreiten zu können. Die Landesdatenschutzbeauftragte habe nichts gegen dieses Überwachungsvorhaben. Schließlich nähme die Kamera ja nichts auf, begänne ihre Arbeit erst, wenn sie dank „Künstlicher Intelligenz“ Verdächtiges registriere.

Vorsorgliches Ablenkungsmanöver

Angesichts der offensiven Öffentlichkeitsarbeit aus dem Hause Biesenbach rührt sich jedoch ein gleich zweifaches Unwohlsein. Zum einen, weil es doch sehr verwunderlich ist, dass es datenschutzrechtlich keine Bedenken zu geben scheint, Hafträume systematisch zu überwachen. Orte also, an denen die dort Festgehaltenen ohnehin kaum eine Möglichkeit haben, sich den Blicken des Justizpersonals zu entziehen. Zum anderen, weil gerade Justizminister Biesenbach eigentlich derjenige sein müsste, der das Wort „Suizid von Häftlingen“ nur sehr vorsichtig in den Mund nehmen sollte. Denn Biesenbach ist an der Spitze des Ministeriums der Justiz zur Verantwortung zu ziehen für alles, was in NRW im Knast schief läuft. Ebenso wie er geradestehen muss für alles, was etwa die NRW-Staatsanwaltschaften als weisungsabhängige Justiz-Behörden tun.

Zu beiden Verantwortungsfeldern ist der Minister aktuell allerdings eigentlich nicht in der befreiten Situation, locker und entspannt ein paar erkennbar grundrechtswidrige, aber auf den ersten Blick pfiffig-innovative KI-Lösungen für durchaus erhebliche Probleme im Strafvollzug anzubieten.

Vielmehr sollte er sich besser jeden Tag mehrfach fragen, wie es in der ihm unterstellten Behörde dazu kommen konnte, dass ein Mann in Haft verbrennt. Dass er stirbt an den Brandverletzungen, die er sich in seinem Haftraum in der Justizvollzugsanstalt Kleve am 17. September 2018 zugezogen hat. Dass er zuvor zwar den Notruf betätigt hatte, dass ihm aber niemand zur Hilfe kam. Minutenlang. Seine Schreie will außer einigen anderen Häftlingen niemand gehört haben.

Keine Überwachungskamera der Welt, kein Alarmsystem hätte Amad Ahmad helfen können – ob der Brand nun durch unglückliche Umstände entstanden oder von einem Verzweifelten in aller Absicht gelegt worden ist.

Denn nicht das Fehlen von angemessenen Alarmsystemen hat verhindert, dass Amad Ahmad im September 2018 vor den Flammen gerettet wurde. Überlebt hätte der Inhaftierte wohl viel eher, wenn es Menschen gegeben hätte, die dem von ihm selbst abgesetzten Alarmsignal gefolgt wären und ihn aus der brennenden Zelle befreit hätten. Einer Zelle, in der er seit Wochen saß, ohne dass es dafür überhaupt einen Haftgrund gegeben hätte.

All diese Zusammenhänge soll ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) im Landtag von Nordrhein-Westfalen klären. Sein Untersuchungsauftrag: Warum ist Amad Ahmad im Juli 2018 überhaupt in Haft genommen worden? Wie konnte der Datensatz in der polizeilichen Datenbank ViVA entstehen, der den 26-jährigen Syrer mit einem von der Staatsanwaltschaft Hamburg gesuchten Mann aus Mali verknüpfte? Wie entstand dann Wochen später der Brand im Haftraum des Gefangenen und warum kam ihm niemand zu Hilfe?

Niemand war’s gewesen

Um so hellhöriger macht nun die aktuelle Öffentlichkeitsoffensive des Justizministers, mit der er jüngst seine absurde Überwachungstechnik anpries. Gibt sie doch einen kleinen Vorgeschmack darauf, was am Ende der sogenannten Aufklärung im „Fall Amad A.“ herauskommen und wer seine Hände wie in Unschuld waschen wird.

Zwar hat der PUA zum „Fall Kleve“ mit seiner bislang dritten öffentlichen Zeug*innenvernehmung gerade erst Fahrt aufgenommen. Aber bereits jetzt zeichnet sich ab, was als Ergebnis der Ausschuss-Arbeit präsentiert werden wird: Amad Ahmad sei aus Versehen ohne Rechtsgrundlage von Anfang Juli bis Mitte September 2018 in der JVA Kleve eingesperrt gewesen. Wegen unglücklicher Umstände also, die sich in misslicher Verkettung schicksalhaft aneinanderreihen – bis am Ende einer tot ist. So könnte – so wird – die Erzählung zur Inhaftierung und zum Tod von Amad Ahmad aussehen, wenn wir den „Aufklärer*innen“ glauben. Justizminister Biesenbach wird dann wiederholt und lautstark seine Überwachungstechnik aus der Trickkiste der Staatsräson zerren, alle zucken mit den Schultern und seufzen: „Hätten wir diese Kameras früher installiert, wäre dieses schreckliche Unglück nicht passiert.“

Doch tatsächlich waren Menschen aus Fleisch und Blut daran beteiligt, dass Amad Ahmad am 6. Juli 2018 in Haft kam – und dass er die Justizvollzugseinrichtungen, in denen er monatelang widerrechtlich eingesperrt bleiben würde, nicht mehr gesund verlassen sollte. Er starb wenige Tage nach dem Brand in seiner Zelle, am 29. September 2018.

Beteiligt waren etwa die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei in Siegen, die im Sommer 2018 Personendaten in die neue polizeiliche Datenbank ViVA eintrugen.

Eine dieser Mitarbeiterinnen sagte am 01.10.2019 vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aus. Das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) in NRW hatte zuvor begutachtet, dass an ihrem Computer am 4.7.2018 um kurz nach 18 Uhr die beiden Personendatensätze zusammengefügt worden sein dürften. Die des Syrers Amad Ahmad und die des Maliers Amedy Guira, der in Hamburg per Haftbefehl gesucht wurde.

Just wenige Minuten zuvor hatten die Polizei­beamt*innen in Geldern ihre Vernehmung beendet. Sie hatten Amad Ahmad gegen 18 Uhr entlassen. Den ganzen Tag über war er befragt und sogar einer Erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen worden. Denn in den frühen Morgenstunden des 4. Juli war er zwei Mal von der Polizei festgehalten worden. Erst in Düsseldorf, dann in Krefeld. Beide Male war er aufgefallen, weil er öffentliche Verkehrsmittel benutzt hatte, ohne einen Fahrschein vorweisen zu können. Auch ausweisen konnte er sich am 4. Juli 2018 nicht. Darum hatten die Polizeibeamt*innen in Krefeld ihn auf die Wache mitgenommen. Bis Abends. Gegen 18 Uhr ließen sie ihn gehen. Keine zehn Minuten später wurde von einem Dienstcomputer in Siegen aus in der Polizeidatenbank ViVA sein Datensatz mit dem des gesuchten Maliers zusammengeschoben. Amad Ahmad war für die Datenbank von da an er selbst und ein per Haftbefehl Gesuchter.

In Haft genommen wurde Amad Ahmad zwei Tage später, nachdem Polizeibeamt*innen ihn an einem Baggersee in Geldern festgehalten hatten. Von dort aus hatten vier junge Frauen die Polizei gerufen und angegeben, von Amad Ahmad belästigt worden zu sein. Zwei der vier Frauen waren nun ebenfalls als Zeuginnen in den Untersuchungsausschuss geladen.

Er habe sie damals am Badesee nicht mehr in Ruhe gelassen, berichteten sie dort. Darum hätten sie sich mit ihm gestritten. Mit der Drohung, die Polizei zu rufen, hätten sie ihm „eigentlich nur Angst machen“ wollen. Schließlich habe er sie „genervt“, so eine der Zeuginnen. So hätten sie dann tatsächlich den Vater von einer von ihnen angerufen, weil der als Verkehrspolizist bei der Polizei in Geldern arbeitete. Dieser habe dann seine Kolleg*innen informiert. Die Polizeibeamt*innen hätten schließlich Amad Ahmad am Straßenrand sitzend aufgegriffen und mitgenommen.

Zufall und Fehler

Kurz nach Ende der Vernehmung von Amad Ahmad auf dem Gelderner Polizeirevier dürfte in Siegen also dessen Datensatz mit dem des gesuchten Maliers verknüpft worden sein. So lautet zumindest die Analyse aus dem Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste, das für IT-Fragen der Polizeibehörden in NRW zuständig ist. Dessen Auswertungsbericht wurde im Untersuchungsausschuss zitiert.

Katharina J., die Mitarbeiterin der Siegener Polizei, gelernte Bürokauffrau und seinerzeit „Eingabekraft“ für den Umzug der polizeilichen Datenbankinhalte auf das neue Informationssystem ViVA, sagte in der Ausschuss-Sitzung auf Nachfrage aus, dass sie an diesem Tag jedoch nicht im Kontakt mit der Polizei in Krefeld, nicht mit Polizist*innen aus Geldern und auch nicht mit Polizeibeamt*innen aus Hamburg gestanden habe. Auch kann sie sich nicht daran erinnern, dass sie die beiden Datensätze zusammengefügt habe. Auch habe sie nie aus eigenen Stücken eine solche Datenzusammenführung vorgenommen. Immer habe ihr entweder ihr Vorgesetzter oder ein*e ihr übergeordnete*r Kolleg*in den Auftrag gegeben, für die Datenzusammenführung zu sorgen. Manchmal habe sie den Hinweis auch schriftlich, auf einem Notizzettel, erhalten. Dann habe sie jedes Mal zu zwei weiteren Kolleginnen gehen müssen, die die Datenzusammenführung hätten ausführen dürfen und können. Bis diese Kolleginnen ihr irgendwann gezeigt hätten, wie sie diese Verknüpfung von mehreren Personendatensätzen selbst hätte machen können – schließlich seien die Kolleginnen immer sehr beschäftigt gewesen. Dass eine Dienstanweisung diesen massiven Eingriff in einen Datenpool einfachen Eingabekräften untersagte, habe sie nicht gewusst. Käme diese doch stets als Email, die mit einem Klick als „Gelesen“ bestätigt werden könnte.

Leider fragte keine*r der Abgeordneten im Ausschuss die Zeugin nach ihren Arbeitszeiten. Ungewöhnlich scheint doch zumindest die Uhrzeit der Datenbank-Eingabe. Eine Nachfrage hätte hier sicher Klarheit verschafft darüber, ob die Büro-Mitarbeiterin der Polizei in Siegen denn überhaupt je bis nach 18 Uhr gearbeitet hatte. Selbst wenn sie sich nicht an den konkreten Fall erinnern mochte, hätte sich zumindest noch einmal überlegen lassen, ob sie selbst es gewesen sein könnte, die in den Abendstunden des 4. Juli 2018 die Daten zusammengefügt hatte.

Offen blieb am Ende der Befragung der Zeugin J. leider außerdem, wie der Auftrag, die beiden Datensätze in der ViVA-Datenbank zusammenzuführen, überhaupt ‚entstanden‘ war und wer ihn nach Siegen vermittelt hatte. Lag er bereits vor? Oder war er just erst zur Dateneingabe dorthin geschickt worden? Ausgerechnet wenige Minuten, nachdem einer der beiden Männer, um die es bei der Datenzusammenlegung ging, in Geldern von der Polizei vernommen worden war? Es könnte Zufall gewesen sein. Ein sehr, sehr großer Zufall.

Tragisch, was sonst?

Anzumerken war der Zeugin J., dass sie seit Bekanntwerden des Todes von Amad Ahmad viel über die Konsequenzen ihrer unbefugten Arbeit mit den Datensätzen nachgedacht hatte. Mehrfach zitierte sie im Untersuchungsausschuss ihren Vorgesetzten, der ihr damals des Öfteren zu verstehen gegeben habe, dass in der Dateneingabe und -bearbeitung eigentlich kein Fehler entstehen könne. Ein Qualitätssicherungssystem, mit dem die Datenbankeinträge geprüft würden, ließe eine falsche Eingabe nicht „durchgehen“. Wenn ihr jedoch bereits bei der Eingabe Zweifel gekommen seien, ob mit den Daten alles stimme, habe ihr Vorgesetzter sie stets auf ihre Rolle als „Eingabekraft“ verwiesen, die Inhaltliches oder Technisches nicht zu hinterfragen habe.

Nach der Sitzung formulierte die Deutsche Presseagentur dpa in ihrer Meldung zum PUA-Termin, dass es ein „Fehler“ bei der Dateneingabe gewesen sei, der „die Verwechslung“ des „unschuldig inhaftierten Syrers“ wohl „begünstigt“ habe. Damit stand für die Vertreter*innen der Presse, die landauf, landab die dpa-Meldung übernahmen, fest: Es war gewissermaßen ein ‚Unfall‘, dass Amad Ahmad „verwechselt“ wurde. Ein unglückliches Zusammenspiel von menschlichem Versagen, unausgereifter IT-Qualitätssicherungsprozesse und undeutlich kommunizierter Dienstanweisungen. Der WDR ergänzte in den wenigen eigenen Worten, die er der dpa-Meldung hinzufügte: „Die Tragödie begann in Siegen“.

In seiner Berichterstattung zu Justizminister Peter Biesenbachs Plänen, mit Überwachungskameras dafür Sorge tragen zu wollen, dass es keine Selbstmorde in Haft mehr gäbe, schreibt der WDR genau diese Story vom tragischen Tod eines Häftlings fort. Der „mögliche Selbstmord des Syrers Amad A.“ wird hier als Aufmacher für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministers gewählt. Mit keinem Wort allerdings wird erwähnt, dass Amad Ahmad zu Unrecht inhaftiert war. Dass er gar nicht dort hätte verbrennen müssen, wo er war, wenn er nicht extralegal und ohne rechtliche Grundlage überhaupt in Haft verbracht und festgehalten worden wäre. Er hätte keine Überwachung durch „künstliche Intelligenz“ gebraucht, damit er hätte überleben können. Stattdessen hätte er einen Menschen gebraucht, nur einen, der seiner Inhaftnahme widersprochen, der einen Fehler oder eine Absicht, Amad Ahmad festzuhalten, erkannt hätte.

Es ist wichtig, dass der Parlamentarische Untersuchungsausschuss beobachtet wird. Verteter*innen der Presse waren zuletzt zwar reichlich vertreten, doch braucht es kritische Berichterstattung und Beobachtung, die deren Lesart von „Fehlern“ und „Tragödien“ etwas entgegensetzen kann. Die Ausschusssitzungen sind in der Regel öffentlich. Ein Besuch der Sitzungen ist unter Vorlage eines Ausweises an der Eingangskontrolle zum Landtag möglich. Die nächsten Sitzungen sind am 29.10.2019 um 14.30 Uhr sowie am 26.11.2019 um 14 Uhr. Aktuelle Informationen sind auf der Homepage des Landtages abrufbar. Außerdem informiert NSU Watch NRW unter twitter @nsuwatch_nrw.