I´ll be a postpolitician in a postcapitalism

Manifest für die Repolitisierung des kulturellen Sektors

Der Sänger der Hamburger Band "Goldene Zitronen", Schorsch Kamerun, organisiert zur Zeit in Zürich eine Veranstaltungsreihe zur "Auswertung der 90er". Um Ähnliches geht es in diesem Artikel: Die 1990er Jahre hätten, so lautet eine weitverbreitete Vorstellung über die popkulturellen Entwicklungen der letzten Jahre, eine unglaubliche Vielfalt an Subkulturen, lifestyles, Moden, Ausdrucksformen und politischen Optionen mit sich gebracht. Es sei gar nicht mehr möglich, zu provozieren, da man durch Protest gar nicht mehr an die Grenzen der Gesellschaft stoße. Diese Vorstellungen sollen auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden, um anschließend aus diesen Überlegungen die Forderung nach der Repoliti-sierung des kulturellen Sektors zu entwickeln.

Man stellt sich die Welt ungefähr so vor: Die Jugend pierct sich, trägt blaue Haare, hat kaputte Jeans, und niemanden stört's. Freitags geht die Jugend auf ein Rockkonzert, samstags in den Techno-Club. Gern surft die Jugend im Internet, wo sie ein beliebiges Geschlecht annimmt und so die heterosexuelle Geschlechtsordnung untergräbt, in der Schule trägt die Jugend "CK One", ein androgynes Parfum. Der Fremde wird hier akzeptiert, er bringt seine eigene Kultur ein und macht damit unsere Mischung noch exotischer. Für die Jugend zählen nicht mehr alte ideologische Grabenkämpfe, sondern gute Ideen, Ideen nämlich, die funktionieren. Jugend wechselt mehrmals im Leben Beruf, Wohnort, Lebenspartner. Die Jugend, das sind alle.

Die Bewertung dieser postpolitischen Welt, in der es keine Grenzen mehr gibt, fällt ambivalent aus. Die einen freuen sich am Zugewinn an Toleranz und Multikul-tu-ralismus, die anderen beklagen die Inte-grations-fähig-keit des Systems, das die Artikulation radikaler Kritik einfach vermarktet und zum Kassenschlager macht. Dass jedoch diese Liberalisierung vonstatten geht, darin herrscht Einigkeit.

Smells like teen spirit

Der Selbstmord Kurt Cobains markiert auf dem Sektor der Popmusik einen entscheidenden Umbruch. Diese Zäsur bedeutete das Ende der Möglichkeit des Protests durch kulturelle Ausdrucksformen. Für die Grunge-Bewegung war der ungeheure kommerzielle Erfolg des Nirvana-Albums "Nevermind" ein Schock: Die verhasste Musikindustrie verdient mit der Vermarktung eines ihrer schärfsten Kritikers Millionen von Dollar.

Dieses Unbehagen vergisst freilich die Tatsache, dass Popmusik, sobald sie auf Tonträgern verbreitet wird, immer eine Ware ist. Dieser Warencharakter formt immer schon auch die Art und Weise der Komposition und des Inhalts des Produkts. Selbst der Konsum von Dissidenz wird erst ermöglicht durch die warenförmige Verbreitung vermeintlich "unabhängiger" Musik. Alternative Subkultur hat also immer, wenn sie unter kapitalistischen Bedingungen produziert wird, einen Doppelcharakter: Einerseits ist sie kapitalistischen Marktbedingungen unterworfen, andererseits kann sie diese durch den Inhalt in Frage stellen. Jemand, der sich eine in einigen Wochen schon wieder vergriffene EP von DJ Krust kauft, handelt in dem Bewusstsein, sich von der Masse abzugrenzen - genau dieses Bewusstsein konsumiert er beim Kauf der Platte mit. Was bei "Nevermind", einer Platte, die wahrscheinlich noch 1985 jeder Manager als zu schwer verkäuflich abgelehnt hätte, erstmals perfekt funktionierte, war die Verbindung der Vermittlung von Dissidenz und dem gleichzeitigen massenhaften Verkauf. Das Alternative-Marktsegment wird nunmehr massenhaft erschlossen, die Nachfrage nach Differenz bedient. Paradoxerweise zählt heute die Alternative-Sparte zu den wenigen Wachstumsbranchen des Musikgeschäfts - um so verblüffender, wenn man betrachtet, dass heute durch eine radikale Übernahmepolitik nur 4 Major-Labels 90% des Musikmarktes beherrschen. Diese Nischenbildung (seit dem gleichnamigen Buch von Tom Holert und Mark Terkessidis gern auch "Mainstream der Minderheiten" genannt) führte in den letzten Jahren in der Tat zu empfindlichen Popularitätseinbußen von popkulturellen Integrationsfiguren wie Madonna oder Michael Jackson.

So werden durch die wirtschaftliche Neustrukturierung der Musikindustrie tatsächlich mehr kulturelle Ausdrucksformen verfügbar. Dies eröffnet jedoch auch rechten kulturellen Zeichen die Möglichkeit des massenhaften Vertriebes: In den 80er wäre es wohl undenkbar gewesen, dass die Rockband "Rammstein" ein Video auf MTV unterbringt, in dem affirmativ das Bildmaterial der Nazifilmerin Leni Riefenstahl Verwendung findet. Ob Joachim Witt ein "Bataillon d´amour" besingt oder Tocotronic die komische Situation schildern, nebeneinander auf dem Teppichboden zu sitzen, ist ein entscheidender Unterschied: Es handelt sich um entgegengesetzte Möglichkeiten, Liebe zu thematisieren. Zur Zeit findet also eine entscheidende Neuverteilung der Hegemonie um kulturelle Zeichen und symbolische Macht statt, die wegen der sozialisatorischen Funktion der Popkultur die politischen Bedingungen für progressive Veränderungen beeinflussen.

I bring you frankincense

Ein weiteres Beispiel, das oft angeführt wird, um die These von der Liberalisierung des kulturellen Sektors zu belegen, ist der zunehmende Multikulturalismus. 1999 feiert der Spiegel die deutsche "Hybridkultur" als "erregend anders", man hört Lambada, Samba und selbst nationale Musiker wie Peter Maffay nehmen ihre Platte ("Begegnungen") mit Musikern verschiedenster Hautfarbe und Nationalität auf, die Kaffeemarke Melitta wirbt mit dem Slogan "Die Mischung macht's!" und zeigt tanzende schwarze Kaffeebauern. Selbst die CSU akzeptiert mittlerweile die Tatsache, dass die BRD ein Einwanderungsland ist, und Wirtschaftsverbände initiieren Kampagnen gegen Fremdenfeindlichkeit.

Die wirtschaftliche Globalisierung, wobei einzelne Nationalstaaten nur noch um die besten Standortbedingungen für die global players konkurrieren, bewirkt eine Veränderung des Bildes vom Fremden. Der Multikulturalismus scheint die passende Ideologie zur Globalisierung zu sein, global playen funktioniert einfach nicht so gut, wenn ausländische Investoren in Deutschland um ihre Gesundheit fürchten müssen. Hier ist es jedoch besonders leicht, die Grenzen der Toleranz aufzuzeigen: Sie hört da auf, wo Lehrerinnen Kopftücher tragen oder nicht als Arbeitskräfte benötigte Menschen eine Grenze passieren wollen. Dem Feature "Hybridität" steht die rückwärtsgewandte Forderung nach "Leit-kultur" und Erhaltung der nationalen Identität gegenüber. Die akzeptierte Art der Fremdheit hingegen ist nicht vielmehr als die Kehrseite des Rassismus: der Blick auf das Andere ist stets exotistisch, das Fremde wird auf die Klischees verpflichtet, die über es vorherrschen. In dem Kurzfilm von Ngozi Onwurah "I bring you frankincense" (Großbritannien 1996) geht es um einen kleinen schwarzen Jungen in einer Schulklasse, der jedes Jahr wieder und wieder in der Aufführung der Weihnachtsgeschichte den schwarzen König Balthazar spielen muss und zu sagen hat: "Ich bringe Euch Weihrauch". Diese Szene entlarvt sehr schön die Art der Akzeptanz des Fremden: Dominant bleibt weiterhin die "eigene" nationale Position, die den Anderen in die vorgesehene exotische Rolle zwingt. "Der multikulturalistische Respekt vor der Besonderheit des Anderen ist eigentlich die Behauptung der eigenen Überlegenheit." (Zizek, Slavoj: Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998, S. 73)

Für eine neue Politik der Wahrheit!

Verursacht von unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen werden zur Zeit im Bereich des Kulturellen die Grenzen der Akzeptanz neu verhandelt. Gleichzeitig wird diese genuin politische Auseinandersetzung jedoch verschleiert und als Zugewinn an Toleranz und einer "friedlichen Koexistenz" unterschiedlicher Ansätze und Attitüden verkauft. Begleitet wird diese Ideologie der Beliebigkeit von der Idee der "Neuen Mitte", die in den meisten europäischen Ländern und in den USA einen Siegeszug angetreten hat: Gefragt sind nicht mehr alte "ideologische Auseinandersetzungen zwischen rechts und links", sondern Rezepte, "die funktionieren". "Funktionieren" tun im Kapitalismus freilich solche Rezepte, die ihm adäquat sind. So muss folglich der Sozialstaat abgebaut werden, weil er eben nicht funktioniert. Hier wird eine konservative Politik erfrischend als politisch neutral vermarktet. Möglich wurde diese postpolitische Politik durch das Ende des "Kalten Krieges", das nicht nur den globalen Charakter dieser Ordnung zeigte, sondern auch die innenpolitischen Flügelkämpfe überflüssig machte. Der Bezug zu antikapitalistischer Politik und erst recht zu einer sich als emanzipatorisch verstehenden Kulturarbeit wird durch eine derartig "dogmenfreie" und "pragmatische" Politik effektiv ausgeschlossen: "Führt das nicht zu einem neuen Gulag?" Die vom liberal-kapitalistischen Philosophen Francis Fukuyama refor-mulierte These vom "Ende der Geschichte" drückt die hegemoniale Vorstellung aus, dass das jetzige Stadium des Kapitalismus das endlich gefundene "natürliche" Regime der Gesellschaft sei.

Was hier dagegen projektiert werden soll, ist eine neue Geste der Wahrheitspolitik. Die Parameter dieser Verhältnisse können nur effektiv in Frage gestellt werden, wenn ein Kontrapunkt eingenommen wird zum pragmatischen Opportunismus. Sich des politischen Charakters des kulturellen Sektors bewusst zu werden, ist die Voraussetzung dafür, ein emanzipatorisches Projekt in Gang zu bringen, dass die im Inneren und Äußeren global gewordene Ordnung untergräbt und alternative und ausgeschlossene Wahrheiten zum Sprechen bringt. Eine solche Geste der kulturellen Wahrheitspolitik sät gezielt Zwietracht in die Harmonie der Diktatur der Beliebigkeit.

DANIEL LOICK

Literatur:
Tom Holert, Mark Terkessidis: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft
Mark Terkessidis: Globalisierung und das Bild vom Fremden, unveröffentlichtes Manuskript
Zizek, Slavoj: Plädoyer für die Intoleranz

Konferenzen:
Kann es eine Politik der Wahrheit geben - nach Lenin?, Essen, 2.-4. Februar
Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! Tagung zu Ideologieproduktion und Subjektkonstitution, Frankfurt am Main, 9.-11. Februar