SPARE PARTS

Nachtrag zum ersten Mai:

War das nicht schön, wie die Leute in London der stählernen Winston-Churchill-Statue einen Iro per Grasstreifen verpasst haben? & war das nicht super, wie die bourgeoisfaschistoide Presse getobt hat, & Tony Blair Witch Project geiferte, Leute, die ihr Leben für unser Land bzw. für die heiligen Golddollars unser ancestors gela-ssen hatten, seien besudelt worden? Und war das nicht zum Kotzen, wie die CSU aufgrund der riots in Berlin nichts anderes zu tun hatte, als ein striktes Verbot aller linken autonomen Demonstrationen zu fordern? Aber immer her mit den mit keinem Wort erwähnten Aufmärschen von rechts, denn die sind süss & brauchbar. & wann wird diese Partei endlich verboten? Tipp: alle ganz feste fröhlich ärgern über diese Schwachmaten, dann lösen sie sich in unserer Säure auf. Gerade erneuert sich der Kapitalismus übrigens, ihr müsst nur mal hingucken. Von Technologie-Hurra bis zu medialen Images über Alltags-Verhaltensweisen - alles da! Noch besser: das Wort "Kapitalismus" wird dabei höflich vermieden. Apropos Technik: O-Ton Mosdorf, Parlamentarischer Staatssek im Wiwi-Ministerium: "Ich finde den Begriff 'digitalen Kapitalismus' etwas sperrig. Ich glaube, 'digitale Ökonomie' ist besser." Auf jeden. Bitte alle mithelfen beim Wort-im-Kopfumdrehen. Auf dass es dunkel werde. Nur die Lichter der derzeitigen Gewinner des neoliberalen Goldrush brennen spätnachts noch, wenn die Börsenkurse tickern. & die musi spielt dazu. Vielleicht nicht die: denn wer TOM LIWA hört, kann kein wirklich Schlechter sein. Zwar hat uns Tom mit "Politik" nie viel am Hut gehabt, dafür aber mit Liebe. Folgerichtig heisst seine erste Platte nach dem Flowerpornoes-Exitus ST. AMOUR (Moll / EFA), & da geht es um mehr als ich & du, sondern auch, wie sich Träume bei allem Alltagsterror & allem wieder-auf-den-Boden-kommen letztlich im Ansatz verwirklichen können. Keine Schmuseesoterik, ihr Schlaumeier, nur einer der besten Songschreiber dieses Landes. Deshalb zuhören. Next big thing: zzt. werden SURROGAT überall gefeiert. Geht ok mit mir, ich bin unten mit kantigen Rockmodellen, auch wenn ROCK (Kitty Yo) nicht der diskursive Überwurf ist, zu dem man ihn derzeit schreibt. Eher ein Update, besser: ein statement, allein schon via Titel (aber: welch ein Zeitalter, in dem Platten ROCK oder POP - W. Voigt - heissen! Hier geht was zuende!). Dem umtriebigen Patrick gehört auf alle Fälle Respekt gezeugt, dass er inmitten von derbstem Majorschwachsinn die Kanten nicht verliert, sondern geradezu schärft. Ob AC / DC - Joschkas Lieblingsmusik - oder Thin Lizzy jedoch zu dekonstruierende Modelle für die Zukunft sind oder doch nur Schweissfüsse am Fan-Ofen bereiten, sei mal so in den Raum geschissen. Das dazu. Dann ein schwieriger Fall: BELLE & SEBASTIAN. Ihr neues Album FOLD YOUR HANDS CHILD YOU WALK LIKE A PEASANT (Jeepster / EFA) will mir genauso wenig gefallen wie ihre auf Jeepster neu aufgelegten ersten 3 EPs. Warum? Finden doch so viele Leut, dass diese Musi so schön & herzerwärmend ist wie nichts zuvor & dass hier die Zukunft durch eine nette Vergangenheit sich gerade neu erfindet. Aber a. schlafen mir dazu Füsse, Hirn & letztlich auch Herz ein, vor allem bei dem ewig-gleichbleibendem Gesang - & wer den nicht mag, wird ein Problem mit B&S bekommen - , b. ist das alles so aufregend wie Simon & Garfunkel (das beste Vergleichsmodell) & c. reissen noch nichtmal die Texte was raus, denn die sind so hip & radikal, als wenn Francoise Sagan & Manfred Mann vögeln würden. Sorry, so ist das nun mal, aber findet's doch selber raus. Ich find's nicht nur krass überschätzt, sondern auch auf die Dauer nervig hoch 10, aber wahrscheinlich bin ich auch d. zu alt dafür. Aber wer jung ist & darauf abfährt, hat ein Problem, finde ich. Huh, mir gehen die Zeilen flöten! Deshalb die Platten jetzt etwas fixer! DIONYSOS sind eine echte Band aus Valence / Frankreich, deren Drittling HAIKU (Lado) Song-Chanson, Impro- & Psychedelic-tugen-den verbindet. Einige Tracks reissen die Musik voll aus dem gewohnten Band-Song-Mittelmass, einiges bleibt so la-la. Ich denke aber, live ist das ziemlich gut. Dann For Fans Only: GRETA SCHLOCH's erste Platte ist da! JACK THE JOCHEN - Titel verliert, Greta! - (Plattenmeister) ist nur leider nicht so supergenial wie das, was man erwartet hätte - klar, bei den Ansprüchen! - aber immer noch better than the rest! Frau will ja auch nicht immer lo-fi fideln. Das ist ganz kaputt, & jawohl escht witzisch. Heimliche Platte des Monats, ausser Konkurrenz! Superfantastisches Songwriting mit Dub & Reggae-Einflüssen von der NORTH LONDON SPIRITUA-LI-STIC CHURCH. Den tollen Titel ELECTRIC MUSIC (Grand Royal) - dafür ein Aua! - vergessen & in der komischen Kirche wohlfühlen! Biegen wir ab zu elektroiden Klangwelten: als erste erfreut TELE:FUNKEN mit A COLLECTION OF ICE CREAM VANS VOL. 2 (Domino): stark Aphex-Twin beeinflusste Lo-Fi-Tracks, die wirklich sehr schräg in die Ohren schlittern. Genuine Mischung aus Kinderkram & Stubenhocker-Punk. Nice work, if you can get it. Und: bitte aufpassen! QUATER-MASS, das Elektronik-Kind vom famosen SUBROSA-Label, bringt mit BUMP & GRINDs ABSTRACT THEME VARIA-TIONS eine fantastisch-freigeistige Stilfusion auf die Beine, zwischen abstract & tight werden hier die Schuhe geschnürt, dass du glückselig stolperst. Und dann kommt BEIGE mit I DON'T EITHER (Leaf) um die Ecke, & alle stöhnen erleichtert "Endlich!" auf. Weil Ollie Braun aus Köln superlange schon an seinen absolut exzellenten Tracks schraubt, cuttet & pastet, bis sich die Software verbiegt. & jetzt das! Unglaublich gut - allerbester abgenagter, nahezu skelettierter Funk der Marke "Kalter Schweiss", der in allen Zwischenräumen silbern schäumt & Spass macht - nicht verpassen! Ebenfalls Qualität: der SCAPE-Sampler STAED-TIZISM. Stefan "Pole" Bethkes Label (über EFA) kann zzt. nichts falsch machen, und hier laufen vor Sympathie fast die Zügel durch, da hier alles derart stimmig ist, dass nurmehr Wohlfühlen angesagt ist. Die hier Kompilierten fangen die Scape-Idee auf & modifizieren sie - sehr schön! Auf KITTY YO dann endlich das erste Album von RECHENZENTRUM. Der unspektakuläre Name mag darüber hinwegtäuschen, dass wir hier eines der derzeit besten, da kompaktesten und gleichsam witzigsten Minimalismusmodelle aus hiesigen Breiten vor uns haben. Wie bei POLE werden hier lebendige Klangräume konstruiert, in denen Bewegung kreist. Manchmal plockert's gar zu oldschoolig, doch dann ist auch schon aus. Kommt mehr! Dann ein Album von THE HACKER aus Grenoble! MELODIES EN SOUS-SOL (Good Life / EFA) ist der beste Elektro-Output zwischen dunkel-konzentriert und hell-offen, der sich zur Zeit in Euroland hören lässt. Offene 80er-Refernzen (Fadin Away) sind selten, klingen dann aber sehr state-of-the-art. Im Herbst ist dann ein Album mit seiner part-time-Diseuse MISS KITTIN zu erwarten. Nicht unerwähnt lassen will ich die alten technoiden GUS GUS-Schätzchen, die auf 4 AD wieder zu haben sind, bevor es zu HipHop & Headz geht. Wie immer viel Neues, heraushebenswert sind SONIC SUM mit THE SANITY ANNEX (Ozone), die eine gelungene Gratwanderung zwischen stets bewusster Smoothness & Kante hinbekommen, nennen muss ich natürlich WELCOME TO THE AFTERFUTURE, das Superalbum von MIKE LADD (Ozone) & sein ebenso geniales Projekt GUN HILL ROAD (Big Dada) - das sind die HipHop-Modelle der Zukunft, völlig jenseits von allen industrialisierten Klischees des Genres, politisch bewusst und mehr spoken-word als das Endlosgebabbel der schwarzen Industriesklaven, die sich autonom wähnen. Dito in derselben Klasse: SCIENZ OF LIFE mit COMING FORTH BY DAY (Sub Verse) - geht's noch besser, geht's noch roher, geht's noch unglaublicher? Das NYer-Kollektiv - hier stimmt die Bezeichnung! - macht nach diversen Klassikern auf Fondle eine der besten HipHop-Alben, solltet ihr euch wirklich nicht entgehen lassen. Gute Styles, die allgemeingültige Kopfnickerbedürfnisse bedienen, ohne sich allzuweit aus dem Fenster zu lehnen, kicken hingegen die CALI AGENTS aus San Francisco (Groove Attack), die auf HOW THE WEST WAS WON in die EPMD-Fusstapfen treten. Geht ok, aber sie treten eben in Fusstapfen. Die Wu-Tang-assoziierten ROYAL FAM dann bedienen auf YESTERDAY, TODAY (Pias) fett und feist alle Clan-Fans mit einem auch okeyen Flow, der sich aber mal wieder um einige Hintergründe kümmern müsste (Pias) - so drehen sich die black-ghetto-Klischees in Dauerrunden wie Schumacher. Vom HipHop Under-groundMa-jor RAWKUS kommt dann mit HIPHOP FOR RESPECT - ja, genau, die ausgelutschte Formel! - eine sehr beachtenswerte Compi, die sanft-kritisch auf die jüngsten Polizeimorde in NY hinweist. Die Infos hierzu sind sehr unkonkret, sprechen von "tragic deaths" & von einer Verantwortung, die die schwarze Unterhaltungsindustrie gegenüber ihrer kaufenden Community habe. Es soll eine Tour durch Schulen erfolgen, um über Police-Practices aufzuklären. Ma gucken, ob das wohl nötig ist im Ghetto. Trotzdem: beachtenswert. Vor allem, dass RAWKUS mit EGO TRIP'S BIG PLAYBACK eine ganze Latte absolut klassischer Tracks aus den 80ern rereleast, die niemand mehr für bares Geld irgendwo findet. & dem gebührt natürlich dann doch: Respekt - keine Frage. Hier ist der Stoff, der Rawkus selbst beeinflusst hat - eine einmalige Chance, diese Schätze nochmal zu heben. Und noch eine: via GROOVE ATTACK sind derzeit zwei absolut grandiose Alben von PETER TOSH (Compilation früher Stücke, auch Wailers-Material) und LEE SCRATCH PERRY (unveröffentlichtes Studioalbum) auf dem Kultlabel TROJAN rausgekommen. Um Volker Tobian zu zitieren: Dazu brauch ich jetzt nichts mehr zu sagen. Noch einen kleinen Exkurs nach Headzland: TOMMY GUER-RERO wirft auf LITTLE BIT OF SOMETHIN (Mo Wax) seine frühen SkaterPunk-Einflüsse, Coltrane, Santana, Downbeats & Tortoise-artige-Filmscapes in den Topf, rührt um & verteilt die Brötchen. Lecker. Die neue CHUMBA-WAMBA (EMI) kennt ihr ja wahrscheinlich eh schon, & auch diesmal ist von AU bis WAU alles vertreten. Love em or leave em, sagen die Leute, ich hör lieber zu. Den Schlusspunkt setzen diesmal THE NO WTO COMBO: Jello Biafra, Kim Thayil (Ex-Soundgarden) & Krist Novoselic (Ex-Nirvana) ua bilden eine Bande, die herzhaft gegen den Welthandelsgipfel der WTO in Seattle rockt, & das live & mit spoken wordz. Alle älter geworden, & fresh klingt das auch nicht unbedingt, aber die Titel sind Klasse: Battle In Seattle, New Feudalism & - haha - Let's Lynch The Landlord. Lärm, Gebrüll & Feierabend, & dann wache ich auf & denk auf einmal unvermittelt mit Pathos in der Hosentasche: Wir werden siegen! Dieses Schrottmodell Kapitalismus, begründet auf all der Biokacke, ist nicht der Schlusspunkt der Geschichte. Nur geträumt? Mir egal. Auf einmal weiss ich es. Komisch, oder?

MARCUS