Luxusprobleme: Lektüre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Von guten Büchern und schlechtem Timing, schlechten Büchern und gutem Timing, frommen Vorsätzen und eigenartigen Lebensphasen.

Umzüge bieten die fantastische Möglichkeit, kompromisslos das Bücherregal zu verschlanken. Bei vielen Exemplaren ist sicher: die sollen im öffentlichen Bücherschrank ein neues Leben beginnen. Andere werde ich kaum jemals wieder eines Blickes würdigen, geschweige denn, dass ich sie noch mal lese. Und trotzdem ziehen sie mit um. Aus Sentimentalität und aus Selbstbetrug, denn die wahnwitzige Hoffnung, dass es an einem verregneten Novembertag doch noch mal zu einer zweiten Lektüre kommt, bleibt. Beim ganzen zwischen Hingabe und Rationalität changierenden Outsourcen fällt auf, dass ich in diesem Jahr erschreckend viele Bücher nicht zu Ende gelesen habe. Kohorten-mäßig gehöre ich zur „Generation bindungsunfähig“. Den Stempel habe ich für mich freilich nie in Betracht gezogen – bis jetzt. Es ist ganz klar Bindungsunfähigkeit, wenn ich mit dem Buch nicht durch zähe und anstrengende Z/S/eiten gehen kann. Mir fehlt das Commitment.Da wäre zum Beispiel „Q“ von diesem italienischen Autorenkollektiv Luther Blissett. In dem Roman geht es um Thomas Müntzer, Martin Luther, Bauernkrieg, alles was zur Reformationszeit dazugehört halt. Story mit Thriller-Potenzial also, plus nebenbei historische Bildung. Vielleicht hätte ich den Roman nicht ausgerechnet kurz vorm „Luther-Jahr“ anfangen sollen, Jubiläen nerven immer so! Doch Luther-Jahr hin oder her, ich habe schlichtweg zu viel erwartet, weil ich von ebenjenem Autorenkollektiv (hier unter dem Namen Wu Ming) auch „54“ – zu Ende – gelesen hatte, einen gleichartig verschachtelten, aber ziemlich fesselnden Schlagabtausch über alternde italienische Antifaschisten, mafiöse Hehlerei, Tito, Cary Grant und ein bisschen dolce vita = geniale Mischung. Bei „Q“ hingegen konnte ich mich nicht mal zu einem Drittel durchquälen. Merke: Geschichte vor dem 20. Jahrhundert – Finger weg. Da fehlen mir die Andockmöglichkeiten zu Film- oder Fotoaufnahmen, die beim Lesen im Hirn abgerufen werden können. Beide Faktoren, 20. Jahrhundert und Einfühlungsvermögen dank visueller Stütze, können aber nicht erklären, warum „Der kurze Sommer der Anarchie“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahre 1972 irgendwann gähnend beiseite gelegt wurde. In dem Buch sind sogar Fotos DRIN! Es ist toll geschrieben, als Collage aus verschiedenen Perspektiven, und was sollte es außerdem Spannenderes geben als die spanische Revolution von 1936, das Leben von Buenaventura Durruti und Anarchosyndikalismus? Für mich anscheinend so einiges. Vielleicht fehlte mir die Kondition, weil ich nicht entscheiden konnte, ob ich mich da einem Roman oder einem Sachbuch widme, ich also nicht wusste, ob ich mich in Schmökerstimmung oder konzentrierte Lektüre mit Notizen-Machen begeben sollte? Diese Unterscheidung fiel ebenfalls schwer bei „Sie warn die Anti-deutschesten der deutschen Linken“, obwohl es natürlich als Sachbuch angelegt ist. Herausgegeben von Gerhard Hanloser, versammelt es Beiträge von verschiedenen Autor*innen wie Bernhard Schmid, Ilse Bindseil oder Moshe Zuckermann. Ich hatte mir viel versprochen, denn das Buch wurde 2004 herausgegeben, drei Jahre nach 9/11 und außerdem zu einem Zeitpunkt, wo durchaus so langsam mal über die Historisierung der Antideutschen nachgedacht werden kann. Es ist offensichtlich, die Autor*innen finden, die Antideutschen haben die (?) deutsche Linke kaputt gemacht. Trotzdem bleiben einige Beiträge auf der sachlichen Ebene, Einordnung in Kontexte und so. Bei anderen handelt es sich dann aber um eine knallharte subjektive Abrechnung, daher das Roman-Feeling. Um ehrlich zu sein, habe ich nur die Vendetta-Texte zu Ende gelesen, und von denen auch nur die besonders polemischen. Aus reiner Sensationsgier, denn letztere sind auf so einem abstoßend-anziehenden RTL-II-Niveau verfasst. Zum Geburtstag bekam ich schließlich „Die Tagebücher“ von Sylvia Plath geschenkt, ein Buch in Tür-Stopper-Dimension. Von Anfang an graute mir vor diesem Klopper, weil Plath sich 1963 in dem Alter suizidierte, das ich nun erreicht hatte. Ich glaube, die Freundin, die mich so beschenkte, wollte damit taktvoll sagen: Gräme dich nicht ob des runden Geburtstages, andere bringen sich um. Keine Frage, Plath schreibt wahnsinnig gut, sie ist ultra-reflektiert, die Leserin kommt ihr sehr nah. Aber genau das ist mitunter bedrückend. Als die trübe Jahreszeit anklopfte, legte (hievte) ich das Buch weg, aus Selbstschutz, um es für eine Lebensphase aufzusparen, in der ich zu gute Laune habe und einen Downer brauche. Nicht wieder aufschlagen werde ich „Der Garten der Dissidenten“ von Jonathan Lethem. Der Roman ist 2013 erschienen und erzählt die Familiengeschichte einer jüdischen Kommunistin in New York. Was mich am allermeisten stresste war – neben der unsympathischen Protagonistin und der fehlenden Story – die Sprache. Kann sein, dass es ein Übersetzungsding ist, es sich im Englischen flockiger liest. Aber wenn ich bei einem Buch das Gefühl habe, dass die Sprache in etwa so „locker“ und „authentisch“ ist wie das „Jugendwort des Jahres“, muss es weggelegt werden. Das ist eine Hausregel. Zu guter Letzt habe ich aus dem Fundus eines leider verstorbenen Soziologen „Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander“ von Christel Neusüß geerbt. Das Buch erschien 1985 und versucht, Feminismus, Frauen und Geschlechterverhältnisse in die „reine“ Lehre Marx‘ hineinzudenken und dabei die blinden Flecken zu verorten. Neusüß gelingt es aber auch, ihre zum Teil schmerzhaften persönlichen Erfahrungen aus politischen Zusammenhängen mit einzubringen. Warum trotzdem nur bis Seite 195 gekommen? Faulheit!

Aber, um Bushido zu zitieren: „Zeiten ändern dich“. 2017 könnte also das Jahr werden, in dem ich meine Bindungsfähigkeit zurückgewinne.