Alles wieder gutgemacht?

Am 9.11. vor 61 Jahren wütete der antisemitische deutsche Mob gemeinsam mit der SA auf der Straße. Die Tage andauernden Pogrome gegen "alles Jüdische" gingen unter dem zynischen Namen "Reichskristallnacht" in die Geschichte ein - eine Anspielung auf die im Feuerschein glitzernden Glasscherben, eingeschlagen von der entfesselten deutschen Volksgemeinschaft. Seit der Wiedervereinigung wird lautstark gefordert, den 9.11.1989 als neuen gemeinschaftsstiftenden Gedenktag zu veranstalten: Der Mauerfall soll hierbei als Symbol der "neuen" deutschen Volksgemeinschaft stehen - diesmal die der Guten und der "Befreiten"... Befreit wovon?

Antisemitismus 1999

Geschichtsbewußt zum "Tag der Einheit" verwüsteten Unbekannte den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Über hundert Grabsteine wurden umgeworfen und zum Teil zerschlagen, auf das Denkmal für die deportierten Juden wurden Hakenkreuze geschmiert. Eine Woche später wurden am selben Ort sogar Sprengsätze entdeckt, die glücklicherweise nicht gezündet haben. Ein Tat begangen von verirrten Einzeltätern?

Rassistische und antisemitische Straftaten sind mittlerweile konstante Erscheinungsformen des sich so "nomal" gerierenden vereinigten Deutschlands. Der entfesselte Mob bekommt Zulauf und zwar nicht nur im "wilden Osten".

Auch in der Nähe Düsseldorfs schlugen Antisemiten zu: Von der Presse nahezu ignoriert verwüsteten Unbekannte im April dieses Jahres die Eingangspfosten des jüdischen Friedhofes in Velbert-Neviges und beschmierten 23 Grabsteine mit Hakenkreuzen und Symbolen neofaschistischer Gruppierungen.

Die militante Neonazi-Szene aus Düsseldorf stößt auch offen ins antisemitische Horn: "Deutschlands Feinde sitzen auf der Zietenstraße!" (Sitz der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf) So der O-Ton via Internet aus dem Dunstkreis des sog. "Nationalen Infotelefons Rheinland". Jenes Infotelefon für die Faschisten-Szene, betrieben von der neonazistischen "Kameradschaft Düsseldorf", bekundete per Anrufbeantworter zynisch "Beileid" für den Tod von Ignatz Bubis: "Ein Schelm, wer Böses dabei denkt", höhnten die Düsseldorfer Neonazis auf ihrer Ansage.

Aber nicht nur der offen nazistische Mob übt sich in solcher Art von "Befreiungsschlägen". Auch die "neue deutsche Mitte" übt sich fleißig in der Abwehr von Erinnerung und Verantwortung. Geschichtsrevisionismus und antisemitische Phrasen scheinen integraler Bestandteil dieser Abwehr zu sein. Die Rheinische Post z.B. scheint nicht umhinzukommen, im Nachruf auf Ignatz Bubis vom "reichen Juden" zu schwadronieren und dabei im Gegensatz zu ihren sämtlichen sonstigen Verherrlichungen kapitalistischer Investitionsfreude ihrer plötzlichen Fremdheit zu "Spekulation" und "Immobiliengeschäften" Ausdruck zu verleihen.

Deutsche Befreiung

Von einer "sogenannten political correctness" befreien möchte sich auch Düsseldorfs neuer Oberbürgermeister. Was der OB Erwin damit meint, bekundete er in einer Rede im Hotel Nikko zum "Tag der Heimat": "Ich hoffe, daß auch diejenigen Medien bald ein bisschen weniger Sendezeit bekommen, die uns immer wieder ein schlechtes Gewissen einreden wollen, wenn wir den Begriff Heimat in den Mund nehmen oder von Heimatverbundenheit sprechen." Für Düsseldorfs neuen "Macher" gehört scheinbar auch die kritische Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen zu einem solchen medialen Angriff auf das schützenswerte deutsche Gewissen: "Bisher haben wir im Ältestenrat verhindern können, daß die Wehrmachtsausstellung nach Düsseldorf kommt, denn ich meine: es muß nicht wieder versucht werden, nun noch unbedingt auch noch denjenigen, die als Soldaten gekämpft haben, ein besonderes Etikett anzuheften, nur weil es besonders chic und modern ist." Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" als Anschlag auf das gesunde deutsche Gewissen? Zumindest in diesem Punkt scheint der OB inhaltlich konform zu gehen mit jener Nazi-"Kameradschaft Düsseldorf", die auch schon massiven Protest angekündigt hat, falls die Ausstellung in Düsseldorf gezeigt wird.

Von was will sich dieses ganze Sammelsurium gepeinigter Deutscher eigentlich "befreien"?

Es ist die angebliche "Moralkeule Auschwitz" (Walser), die nicht nur von deutschen Friedenspreisträgern angeprangert wird in ihrer Deutschtümelei. Auch der neue deutsche Kanzler wischt die Entschädigungsforderungen ausgebeuteter ZwangsarbeiterInnen mit dem Hinweis vom Tisch, daß dabei bloß "zwielichtige Interessen" von "bestimmten Berufsgruppen" im Spiel seien. Davon wollte sich die deutsche Volksgemeinschaft auch damals schon "befreien". Deshalb hat die Erinnerungs-Zermonie an die Pogrome etwas Gekünsteltes an sich im wiedervereinten Deutschland. Zur Identitätsstiftung der "Berliner Republik" gehört die Verherrlichung des Mauerfalls als Symbol eines völkischen Einheitsgedankens. Die anfängliche Parole auf den Leipziger Montags-Demos "Wir sind das Volk" wurde ersetzt durch den geschürten Nationaltaumel. "Wir sind EIN Volk" hieß dann die eigentliche Helden-Parole. Ein solch völkischer Vereinigungstaumel schließt die Erinnerung an die deutschen Verbrechen aus: "9.November - Ich war dabei!" Mit diesem Aufdruck auf T-Shirts rannten geschichts-vergessen die befreiten Deutschen bierseelig durch die Straßen.

Deutschland normal

Das nun "wiedervereinte Volk" der Deutschen bezieht seine Identität aus dem aggressiven Pochen auf "Normalität". Konstitutiv für dieses Drängen auf Normalität ist deshalb die rigerose Abwehr der Erinnerung an die eigenen Verbrechen. "Normal" sein heißt eben, nicht mehr mit Auschwitz konfrontiert zu sein; endlich wieder stolz darauf sein zu dürfen, "Deutscher" zu sein. Es beinhaltet, sich zu herbeihalluzinierten "Wurzeln" zu bekennen, ohne gesellschaftliche Verantwortung für die schlimmsten Verbrechen zu tragen, die ein völkischer Nationalismus je hervorgebracht hat. Dies schlägt sich auch in dem Ansteigen antisemitischer Einstellungen nieder. So waren es 1992 laut Meinungsumfragen 6% Ostdeutsche und 7% Westdeutsche, die angaben, "Juden nicht gern als Nachbarn" zu haben. Schon zwei Jahre später stieg dieses Ressentiment bei den Ossis auf 21% und bei den Wessis auf 22% an. Gewalt gegen Menschen, die als "Fremde" und "Eindringlinge" angesehen werden, hat seit der Vereinigung konstant zugenommen; ebenso antisemitische Schmierereinen und Gewaltakte. Das neue "Nationalbewußtsein" beinhaltet eine rassistische und antisemitische Grundhaltung. Als der verstorbene Präsident des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, nach den rassistischen Exzessen in Rostock-Lichtenhagen öffentlich Solidarität mit den Flüchtlingen demonstrierte, schlug ihm Unverständnis und Hass entgegen. Die TV-Bilder von einem vor Erschütterung weinenden Bubis vor dem angebrannten Heim für die Asylbewerber riefen nicht etwa mehrheitlich Erschütterung hervor, sondern das Gegenteil. Was will der da, wurde gefragt. Noch 1998 hielt der Schlußstrich-Propagandist Martin Walser ihm diese Solidarität in besonders widerlicher Weise vor: "Wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort rückgebunden an 1933 (...) Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage ich Sie, als was waren Sie dort? (...) Denn ich sah Ihr empörtes, ergriffenes Gesicht, begleitet vom Schein der brennenden Häuser, das war sehr heroisch." (FAZ, 14.12.1998) Da quillt der Hass offen heraus: "Der Jude" für "die Asylanten" und "gegen uns" - das ist das Bewußtsein der nationalisierten Deutschen und ihrer Medien-Michel. Laut einer Emnid-Umfrage von 1998 sind es mittlerweile 68% der Deutschen, die einen Schlußstrich unter die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit fordern. Diese aggressive Abwehrhaltung bezieht sich auch auf die Auseinandersetzung mit aktuellem Rassismus und Antisemitismus. "Normal deutsch" zu sein beinhaltet genauso, sich nicht mehr vom "Ausland" oder von "Minderheiten" kritisieren lassen zu wollen, wenn in Deutschland jüdische Friedhöfe geschändet werden oder Asylunterkünfte brennen. "In anderen Ländern passiert das doch auch", heißt es; "warum wird auf uns Deutsche mit dem Finger gezeigt?" Es ist der offen propagierte Wille, endlich wieder "normal" nationalistisch und rassistisch sein zu dürfen; eben so wie "alle anderen auch".

Rassimus wirksam begegnen zu können, bedeutet deshalb, sich diesem gesamten nationalistischen Normalisierungsdiskurs offensiv entgegenzustellen. Der völkische deutsche Nationalismus war es, der Auschwitz ermöglichte und er ist es heute wieder, der geschichtsverdrängende Politiker, aggressiv-trotzige Patrioten, eine pathologisch um nationale Identität ringende Volksgemeinschaft, zerschlagende jüdische Grabsteine und rassistische Brandschatzungen hervorbringt.