"Sie wollten, daß die junge Generation erfuhr, was damals passiert war."

Interview mit dem kritischen Journalisten Heiner Lichtenstein (67) zu Pogromen, NS-Prozessen und Schlußstrich-Diskussionen zum Jahr 2000

TERZ Sie sind erst kürzlich im September mit der Josef-Neuberger-Medaille der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ausgezeichnet worden. Deshalb zunächst herzlichen Glückwunsch!
Heiner Lichtenstein Danke.

TERZ Der 9. November, der Jahrestag des Pogroms von 1938, war bis 1990 ein antinazistischer Gedenktag, an dem auch die offiziellen politischen Vertreter sich den Verbrechen Deutschlands stellen mußten. Nach dem 9. November 1989 wird auch oder sogar mehr des Falls der Mauer gedacht, und man kann den Eindruck gewinnen, daß der 9. November eine Art von heimlicher Nationalfeiertag der Deutschen geworden ist. Würden Sie dem zustimmen?
Heiner Lichtenstein Nein, ich würde dem sogar widersprechen. Erstens weil ich seit Jahr und Tag zum 9. November eingeladen werde, und das hat überhaupt nicht abgenommen, das hat sogar zugenommen. Zweitens haben wir uns schon Anfang 1990 als eine Gruppe von Journalisten zusammengetan und gesagt, wir müssen jetzt etwas unternehmen, damit der 9. November 1938 nicht untergeht und der 9. November 1989 nicht zu dem wird, was sie eben beschrieben haben. Ich habe den Eindruck, wir sind erfolgreich gewesen. Und ein Blick in die Zeitungen oder die Programme der öffentlich-rechtlichen Medien gibt mir, denke ich, auch Recht. Es gab Versuche, aber es ist nicht gelungen, den 9. November 1938 sozusagen vergessen zu machen und an seiner Stelle an das Ende der DDR zu erinnern. Das gibt es sicher bei runden Tagen; also dieses Jahr wird es einige Veranstaltungen zu Erinnerung an das Ende der Mauer geben, aber der 9. November 38 steht unverändert im Mittelpunkt.

TERZ Daß also in der Berichterstattung die Ereignisse vom 9. November 1989 den 9. November 1938 überlagern, diesen Eindruck würden Sie nicht teilen?
Heiner Lichtenstein Nein, gar nicht.

TERZ Sie sind 67 Jahre alt. 1938 waren Sie demnach 6 Jahre alt. Haben Sie persönlich Erinnerungen an die Verbrechen vom 9. November 1938?
Heiner Lichtenstein Ich stamme aus Chemnitz, das ist nicht weit von der Grenze zur Tschechischen Republik. Ich erinnere mich, daß meine Eltern entweder am 9. o der am 10. November aus Prag zurückkamen, und die waren entsetzt darüber, daß in Prag so viele Synagogen gebrannt haben. Prag ist ja schon im März 1938 von den Nazis besetzt worden. Das ist meine persönliche Erinnerung an dieses Datum. Daran, daß auch in Chemnitz die Synagogen gebrannt haben - wir wohnten ganz nah von Stefan Heym in einer Gegend, nicht weit davon war auch die Synagoge - daran habe ich keine Erinnerung.

TERZ Sie waren einer der ersten Beobachter von NS-Prozessen; hat es denn je Prozesse gegen die Täter vom 9. November 1938 gegeben?
Heiner Lichtenstein Ganz wenige . Die hätten eigentlich sofort 1945/46 anfangen müssen. Aber da wurde allgemein von den Stadtverwaltungen, in den Gemeinden erzählt: wir wissen nicht, wer das war; das waren die Leute aus der Nachbargemeinde. Und wir können auch die Feuerwehrleute nicht befragen, denn die Feuerwehrleute aus unserem Dorf waren gar nicht hier im Einsatz, die waren auch im Nachbarort. Und so sind kaum Prozesse geführt worden, weil man sagte, es gebe keine Zeugen. Alles Lüge! Es waren immer die Einheimischen, die Feuerwehrleute und auch die Brandstifter, also die SA-Leute.

TERZ Phoenix brachte am 2.10. eine Sendung zum 9. November. Titel: "Deutsche Schicksalstage". Darin wurde auch ein Deutscher interviewt, der dabei war, als in einer zerstörten Synagoge noch die Einrichtungsgegenstände demoliert wurden. Zitat: "Und da ham wir die Sachen da ... noch ... die da ... noch zerschlagen." Ob der Mann nach 1945 vor Gericht kam, fragte der Interviewer aber nicht.
Heiner Lichtenstein Wie überhaupt ungezählte NS-Verbrechen nie geahndet worden sind. Das fing an mit den Novemberpogromen, wo die ersten Verbrechen öffentlich sichtbar begangen wurden. Vorher hat es ja schon am 1. April 1933 den Boykott gegen jüdische Geschäfte gegeben; auch dafür ist kein Mensch nach 1945 bestraft worden, obwohl natürlich da zumindest Sachbeschädigungen und Körperverletzung begangen worden sind - noch keine Morde ...

TERZ ... Geschäftsschädigung ...
Heiner Lichtenstein ... natürlich, alles mögliche. Die rechtliche Verfolgung war ja sowieso erst vom 9. Mai 1945 an möglich. Also da hätte es überhaupt noch keine Verjährung geben können. Man wollte nicht! Man sagte, das ist vorbei. Adenauer hat im Oktober 1953 im Bundestag gesagt: "Es wird Zeit, daß wir mit der Nazi-Riecherei aufhören." Also die Schlußstrichmentalität hat es von Anfang an gegeben, und es war relativ schwierig, überhaupt solche Prozesse in Gang zu bringen.

TERZ 1960 in Münster waren sie als freier Mitarbeiter des WDR Beobachter beim NS-Prozeß gegen einen Medizinprofessor, der jüdischen KZ-Häftlingen ohne Betäubung Organproben entnommen hatte. Auf der Pressebank saßen Sie ganz allein. Was haben Sie damals über Ihre Kollegen gedacht, was über die desinteressierten Deutschen?
Heiner Lichtenstein Mir hat jedes Verständnis gefehlt. Münster ist eine mittelgroße Stadt. Viele Studenten, wenige Zeitungen. Aber natürlich auch Büros von Agenturen. Es war der zweite große NS-Prozeß in Münster. Und die Medien haben überhaupt keine Kenntnis davon genommen. Ich habe das nicht kapiert. Nach dem vierten, fünften Tag kamen die ersten Zeugen. Und da verschlug es mir völlig die Sprache, weil sich kein Mensch um die Zeugen gekümmert hat. Sie sprachen zum großen Teil nur gebrochen Deutsch oder gar kein Deutsch und irrten da völlig orientierungslos durch das relativ große Gerichtsgebäude, und die Leute gingen achtlos an denen vorbei. Also das Rote Kreuz, die christlich-jüdische Gesellschaft oder die Caritas hätten sich doch um sie kümmern müssen. Das hat kein Mensch getan.

TERZ Waren die Erlebnisse bei den Düsseldorfer NS-Prozessen ähnlich?
Heiner Lichtenstein Das waren zwei Welten.

TERZ Das war der Majdanek-Prozeß in Düsseldorf und ...
Heiner Lichtenstein ... und der Ganzenmüller-Prozeß um die Beteiligung der Reichsbahn an den Massendeportationen . Das war der erste Prozeß gegen die Wachmannschaften Treblinka, also einem Konzentrations- und Vernichtungslager und dann der einzige Prozeß in Deutschland gegen den Kommandanten eines Vernichtungslagers, Franz Paul Stangel. Beim Majdanek-Prozeß war das Interesse so groß, daß man sich anmelden mußte, wenn man mit einer Gruppe zuhören wollte. Schulklassen aus der ganzen BRD waren da, gut, schwerpunktmäßig aus NRW, aber sie sind auch aus Hamburg und Frankfurt gekommen. Es war sehr voll wegen des öffentlichen Interesses. Ich meine nicht das öffentliche Interesse der Medien, das ist immer sehr niedrig gewesen. Auch die Zeugenbetreuung funktionierte dort vorzüglich; die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und das Rote Kreuz haben Vorbildliches geleistet. Sie haben sich orientiert an dem, was 1963/64 in Frankfurt beim ersten Auschwitz-Prozeß zum ersten Mal praktiziert worden ist: die organisierte Hilfe für die Zeugen. In Düsseldorf klappte das sehr gut. Man ist mit ihnen Essen gegangen, man ist mit ihnen ins Theater gegangen, ist mit ihnen spazieren gegangen, man hat Ausflüge gemacht - um sie auf andere Gedanken zu bringen! Denn die waren ja plötzlich wieder in Majdanek während der Vernehmung. Und auch vorher, sie schlotterten vor Angst, wieder in ihre Vergangenheit gestürzt zu werden. Das sind ja traumatische Monate, die der Vernehmung vorausgingen.

TERZ Was waren die Erwartungen der Opfer, der Zeugen in den Düsseldorfer NS-Prozessen?
Heiner Lichtenstein Das kann ich in einem Satz zusammenfassen: Sie wollten, daß die junge Generation erfuhr, was damals passiert war. Ich habe mit Dutzenden Zeugen gesprochen und auch die Frage gestellt, die Sie jetzt gerade stellen. Und da haben sie dies ohne jede Ausnahme so beantwortet.

TERZ Stand im Mittelpunkt der NS-Prozesse in Düsseldorf eher die Maschinerie der Vernichtung oder aber die deutschen Täter?
Heiner Lichtenstein Das hing ganz von den Verfahren ab. Im Prozeß gegen Albert Ganzenmüller, den Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium - dieses hatte die Züge nach Auschwitz zur Verfügung gestellt - ging es um die Maschinerie der Vernichtung. Der Prozeß hat nicht lange gedauert, nach einiger Zeit wurde Ganzenmüller angeblich krank. Aber ohne diesen Prozeß wäre die Rolle der Reichsbahn nie geklärt worden. Deshalb war das ein ganz wichtiger Prozeß, auch wenn Ganzenmüller nicht bestraft worden ist. Im Prozeß kamen eigentlich keine Emotionen hoch, da ging es um Dokumente. "Das haben Sie unterschrieben?" - "Ja, aber das habe ich nicht gelesen." - "Aber hier ist die Unterschrift, und damit tragen Sie die Verantwortung." Im Majdanek-Prozeß und im Prozeß gegen die Wachmannschaften des Vernichtungslagers Treblinka, in dem die Warschauer Juden - 1 Million Menschen in 6 Monaten - umgebracht worden sind, ging es um die individuellen Verbrechen. Und im Majdanek-Prozeß, das war der größte NS-Prozeß, der je vor einem deutschen Gericht geführt worden ist, ging es um die individuelle Schuld der Angeklagten. Hier ging es darum, was hat der Angeklagte getan, was jene Angeklagte, woran erinnern sich Zeugen und Angeklagte. Danach richtete sich dann das Urteil.

TERZ Die Verdrängung der deutschen Verbrechen an den Juden erlebten Sie als Beobachter von NS-Prozessen. Im neuen großen Deutschland scheint das Thema jedoch eine gewisse Konjunktur zu haben: die Mahnmaldiskussion, die Goldhagendebatte, die Tagebücher V. Klemperers, die Ausstellung über Wehrmachtsverbrechen, eine beachtliche Zahl von Fernsehsendungen. Wie erklären Sie sich dieses Interesse, wo doch gerade seit dem Ende der DDR der Antifaschismus als "verordneter" diskreditiert ist und die Linke heute nur noch Neue Mitte sein will?
Heiner Lichtenstein Auf den ersten Blick ist das ein Widerspruch. Ich habe vorhin an Adenauer 1953 erinnert: Schluß mit der "Nazi-Riecherei". Es gibt eine Wellenbewegung, die man überschreiben kann: die Schlußstrichdebatte. Es hat immer wieder Schlußstrichversuche gegeben - aber dann kam immer eine Gegenbewegung. Heute werden die Abstände dieser Wellenbewegung kürzer. Auf die Rede von Martin Walser in der Paulskirche kam ganz schnell und massiv die Gegenbewegung gegen den Schlußstrich. In Düsseldorf hat es die erste Ausstellung über die öffentliche Versteigerung von geraubtem jüdischen Eigentum gegeben. Das war ein Impuls, der sich über die ganze Republik ausgebreitet hat. In Kürze spricht Prof. Dreßen, der Verantwortliche dieser Ausstellung, wie ich konkret weiß, in Hamburg. Durch diese Ausstellung haben alle Finanzministerien der Bundesländer gesagt, hier gibt es keinen Persönlichkeitsschutz mehr, wir geben die Akten jetzt frei.

TERZ Michel Friedmann, Zentralratsmitglied der Juden in Deutschland, hat sich enttäuscht über das Geschichtsverständnis der neuen rot-grünen Regierung geäußert und den Antisemitismus in der Politik beklagt ("Die Woche" 37/99). Es gebe zahlreiche "populistische Signale, die eine fatale Sehnsucht nach Normalität bedienen." Kennzeichnend sei eine "oberflächliche Haltung des Belästigtseins", nach dem Motto: "Wir lassen uns von der Geschichte nicht mehr stören."
Heiner Lichtenstein Ich teile Friedmanns Beobachtung und auch seine Wertung. Gerhard Schröder hat unmittelbar nach seiner Wahl zum Bundeskanzler gesagt, er wolle die Probleme dieses Jahrhunderts nicht mit ins nächste Jahrhundert nehmen. Damit meinte er natürlich auch Auschwitz. Kurz darauf hat er sich korrigiert. Als die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter begann, hat er sich korrigiert und gesagt, es gibt keinen Schlußstrich. Also hat er einfach seine Position verändert, und das ehrt ihn, wenn er sich eines besseren belehren läßt. Die große Erwartung vor dem Regierungswechsel, und ich muß jetzt einfließen lassen, ich bin auch SPD-Mitglied, die große Erwartung, die rot-grüne Regierung würde mehr in Sachen Holocaust oder Auschwitz tun, habe ich nie geteilt. Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, hat er ungefähr das gesagt, was auch Schröder zu Beginn seiner Amtszeit gesagt hat: Jetzt ist Schluß. Aber gegen Ende seiner Amtszeit hat Helmut Kohl den Leo-Baeck-Preis vom Zentralrat der Juden erhalten für seine großen Verdienste auch um die Erinnerungsarbeit. Auch er hat gelernt. Nach meiner Einschätzung hat die konservative Regierung - die aber auch 16 Jahre Zeit hatte - insgesamt mehr für die Erinnerungsarbeit getan als die neue. Das kann sich ändern, man muß ihr Zeit lassen, aber bisher ist Michel Friedmann zurecht enttäuscht.

TERZ Die "Allgemeine Jüdische Wochenzeitung" (15.04.99) hat sich genötigt gesehen, unter dem Titel "Auschwitz im Kosovo?" die Versuche der rot-grünen Bundesregierung, die Verbrechen in der jugoslawischen Provinz Kosovo mit Auschwitz zu vergleichen, zurückzuweisen. Finden Sie auch, daß Joschka Fischer im Vergleich mit Ernst Nolte der effektivere Auschwitz-Relativierer ist?
Heiner Lichtenstein Hat Fischer das gesagt?

TERZ Ja, die Zeitung nannte "Schröder, Fischer, Scharping". Fischer sagte: "Nie wieder Auschwitz", als ob in Racak Gaskammern und Krematorien stehen würden.
Heiner Lichtenstein Das finde ich unverantwortlich. Auschwitz ist einmalig. Sonst müßte ich auch dulden, daß die Leute von KZ-Hennen reden. Vergleichen kann man alles, aber man kann es nicht gleichsetzen. Der systematische Völkermord, die Shoah, der Holocaust ist ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Ich diskutiere mit solchen Leuten, aber ihren Standpunkt kann ich nicht teilen, weil er unhistorisch ist.

TERZ Vielen Dank, Heiner Lichtenstein.

Das Interview führte Karl Selent