TERZ 06.05 – HONKER - MADE MY DAY
“Es bleibt dabei: die Aufstiegschancen von Geringverdienern in Deutschland werden schlechter. Immer mehr Menschen verdienen immer schlechter - und immer weniger Menschen schaffen den Aufstieg, denn nur jeder dritte der 3,6 Mio Geringverdiener in Deutschland verlässt im Laufe seines Lebens den Niedriglohnsektor. Vor 15 Jahren schaffte das noch jeder zweite” - so war’s letztens in der Presse zu lesen. Die Führung dabei übernehmen, wie immer, unsere Ossis, hier die thüringischen Friseure mit tariflich vereinbarten sagenhaften 3,18 Euro, im Westen sind die Bremer Haushaltshilfen mit auch nicht üblen 5,56 Euro am schlechtesten. Ja aber und? Ist doch bald Sommer, da wachsen die neuen Regierungen wie die Blümchen. Und machen’s wie die gute alte Zigarettenindustrie: das Hartz IV Summer-Jobbing rollt an, das Casting läuft ab jetzt! Bewirb dich als “One-Euro-Hand” in Sachsen-Anhalt, als “Temporary-Factory-Worker” im wilden Ruhrpott, oder vielleicht als “Highway-Trail-Builder”? Alles ist möglich! Harte Zeiten brauchen gute Musik. Hier:
SMOG: A RIVER AIN’T TOO MUCH TO LOVE (Domino)
Das isses. Indieland ist abgebrannt, aber Bill Callahan reift in seiner Flasche wie der beste Wein. 10 der derzeit besten Songs über Leben und Sterben. Urguter fragiler, klarer und starker Klang. Und wie das swingt. Mit seinem bis dato besten Gesang schlüpft Smog in die Rolle des freien Vogels, des Migranten, der zu spät aufbricht und so eine komplett neue Welt sieht und erfährt. Großartig.
DEADMAN: OUR ETERNAL GHOSTS (One little Indian)
Nach seinem 2001er Debut legt das f/m Duo aus Texas jetzt 10 sehr seelenvolle Gospel-Drones nach, die erneut Mark Howard produzierte. So was kommt heraus, wenn man auf Eno und Aretha Franklin steht: traditioneller Country-Soul im Stil von Gram Parsons oder The Band, aber komplett auf der Höhe der Zeit. Weg von den Texasmonstern, und mit Goyas Monstern hinein in die Welt.
SONGDOG: THE TIME OF SUMMER LIGHTNING (One little Indian)
Was ist das denn? Ich glaube, eine der besten Songplatten der Neuzeit. Die walisischen Provinzler reiften nach zwei Alben in London zum Klassetrio, dessen dunkles, raues und magisches Songwriting eine treibende kleine Spinne ist, die zielsicher und klar ihr Netz um dich webt. Nur echt mit Clash-Cover.
CANNED HEAT: THE VERY BEST OF (Capitol)
Ihr Auftritt in Woodstock gehört zum besten, was weisser Bluesrock der Neuzeit je zu bieten hatte. Aktuell tourt eine Besetzung, bei der nur noch Drummer Fito de la Parra als Urgestein mitmacht. 19 Tracks, drei live! Auch die Kracher mit den Idolen John Lee Hooker und Little Richard, machen noch mal eindrucksvoll erfahrbar, wie der legendäre Fünfer den Blues für uns alle herunter boogiete.
STEPHEN MALKMUS: FACE THE TRUTH (Domino)
Das dritte Soloalbum des Ex-Pavement-Masterminds erinnert stark an die frühen Roxy Music. Sehr eigenwillige und originelle Instrumentierungen und Arrangements sorgen dafür, dass diese hochspannende Musik nicht im Sumpf abgehalfterter Profi-Experimente versinkt. Eines der wenigen Indie-Expansionen, die auch noch in vielen Jahren Neues offenbaren werden.
MAXIMO PARK: A CERTAIN TRIGGER (Warp)
Was man von den neuen Indie-Darlings nicht unbedingt sagen kann: das ist modische Retro-Schleife galore, das ist New-Wave 1980. Und leider unverschämt gut. Nur: wozu soll das gut sein? Modeschauen? Seltsamer Kreis.
BENJAMIN DIAMOND: OUT OF MYSELF (!K7)
Meint der das ernst? Ex-Stardust-Vokalist außer House, bastelt sich Songwriterpop nach Baukastenprinzip zusammen. Nicht klassisch, vielmehr geschmäcklerisch, 1000mal gehört und vor allem Mitt80er, dass man erst mal präventiv ab- bzw. durchwinkt. Was schade wäre, denn in Folge der Scheibe passieren dann doch noch einige recht gute Songs, für die sich Hinhören lohnt.
SUZIE ROCK: O.K. (Strunz!)
17 Minuten, 7 Songs, Schönster SpeedRock - noch Fragen? Die Scheibe des hiesigen Dreiers erscheint am 30. Mai, laut Schulze & Schulze und einigen mehr der Weltuntergang, aber hiermit fängt die Welt eigentlich erst an. Nämlich geil zu sein. Das ist nun mal wirklich definitiv so. Tut mir leid, ich mag Trios.
E:GUM: KEYBOARD LIES (Klein)
Und immer wieder Hans Platzgumer, hier mit saudoofem Cover, aber Superprojekt. Mit Jens Döring und dem wundervoll lasziv-tightem Gesang von Catriona Shaw hat’s hier obskuren ElectroFunk mit vielen Holperstellen und Kanten, aber stets straight und hier. Nie überkomplex, doch nie zu simpel und abgedroschen. Rollt reduziert auf den Punkt und dann over the top.
FOUR TET: EVERYTHING ECSTATIC (Domino)
Weil Kieran Hebden die Schnauze von der eigens kreierten Folktronika voll hatte, setzt sich der Junge hier ans Schlagzeug und kramt in der Technokiste. Klingt komisch? Auf jedenfall! Eines der witzigsten Instru-mentalalben der Zeit!
ZION I: TRUE & LIVIN (Live Up)
Woweee…das Duo aus Oakland mit dem Drittling. Supersoulfuller Flow aus Sample und Live-HipHop, Talib Kweli, Del oder Aesop Rock als Gäste, und, yeah, alles auf dem eigenem Label...this is exactly how we wanted it. Hört man!
Eines der gefühlvollsten, bewusstesten und schönsten HipHop-Alben der Zeit.
VIRUS SYNDICATE: WORK RELATED ILLNESS (Planet Mu)
Kann man von diesem Album nicht gerade sagen. Warum Planet Mu nach Neuer Musik jetzt auch noch unbedingt HipHop veröffentlichen muss, bleibt sein Geheimnis. Im Klartext: es nervt. Dieser misogyne Grünschnabel-Vierer aus Manchester hat mit seinem Rap-Comic absolut nix Neues zum Genre beizutragen. Das ist Grime?! Hey, ihr Scheiss-Weissbrote - werdet alt.
V.A.: NOW 02 (underscan)
Die zweite EP von underscan macht mit Scanner, Onethema, Quench und Rod erneut deutlich, worum es dem Label geht. Hier heisst das: sehr beatbetonte hiphop-hypnotische Dramatisierungen von elektronischen Klängen. Spannend!
ANTHONY NICHOLS: NECESSARY PHAZES (Track Mode)
Jenseits der Klischees gelingt dem DJ aus Chicago DeepHouse mit Jazz, Soul und Funk-Einflüssen, der in seinen besten Momenten weit über das Mittelmaß hinausragt, bisweilen aber auch sehr im Allgemein-Belanglosen plätschert.
V.A.: THE ARABIAN CLASSICS CHILLOUT (EMI Music Arabia)
Wasserpfeife raus und CD rein: auf 16 Tracks warten aktuelle arabische Hits mit traditionellen Klängen in chilliger Elektrofusion auf euch. Auch hier ist das Ergebnis durchwachsen: herrliche Entspanner wechseln mit trägen Hängern.
V.A.: SOCA GOLD 2005 (VP)
Statt Kamelle: der karibische Karneval wird seit diversen Jahren durch die Soca-Compilations und ihre ,grosse Klappe, viel dahinter’-Hits bestens abgebildet. Mit diesen vital-gutgelaunten 18 Tracks wird’s auch was mit der Sommerparty.
TOSCA: J.A.C. (!K7)
Traniger Downbeat-Schmäh war gestern: Huber und Dorfmeister servieren ihre grandiosen und üppigen Soundtracks tighter, funkiger und entspannter denn je. Diese famose Achter-bahnfahrt ist universenweit entfernt vom blöden Kaffehaus-Klischee, mit dem diese humorigen Urguten ja nie zu tun hatten.
CHRISTOPHER JUST: ROLAND FLICK FAIRMONT... (Combination)
Der etwas hedonismusgeläuterte Wiener, der in letzter Zeit nicht ganz so arg fit war, will’s noch mal wissen. Zwischen Discotentech und Italohüpfburg schafft sich der Ex-Technoclown eigentlich ganz fit in die Jetztzeit: Open House OK!
ELECTRONICAT: RE:BIRD (Angelika Köhlermann)
Elektrorocker Fred Bigot lässt sein erstes Album “Birds want to have fun” kongenial von Wahl- und Seelenverwandten remixen. Sehr schön. Auf der Festplatte tummeln sich Mike Ladd, The Hacker, Kid 606 oder auch Anne Laplantine. Das ganze Album ist wunderbar facettenreich und disparat.
V.A.: ARMY OF ME – CHARITY RECORD (One little Indian)
Björk hat etwas mehr Fans: über 600 Beiträge landeten für den Remix- und Coverwettbewerb für ”Army of me” auf ihrer Website. Die von ihr mit Graham Massey von 808 State ausgesuchte Compilation unterstützt die Arbeit von Unicef weltweit, zu hören sind abstruse, ödige bis tolle Versionen aus Heavy Metal, Elektro, Pop oder Folklore - quer durch alle Länder.
KEITH BERRY: THE EAR THAT WAS SOLD TO A FISH (Crouton)
Fantastisch, was der Londoner Komponist hier macht: total leise, langsam und filigran, doch sehr bestimmt, präsent und nie beliebig tastet er sich mit Klarheit und Intuition durch ein Labyrinth. Berry geht es darum, Philosophien der De-Konzentration akustisch abzubilden und zu verstärken. Es ist im Grunde unbeliebige Mood-Musik, wie der beste Jazz, der beste Ambient. Nur 300 Stück.
JANE: BERSERKER (Paw Tracks)
Irre schön: Acid-Folks entdecken Techno. Panda Bear und sein Kumpel Scotty mochten schon immer Musik zum Tanzen. Im Animal Collective Proberaum, noch lieber aber zuhause in Greenpoint nahmen sie mit minimalstem Equipment maximalst originelle Tracks auf, bei denen es nicht um Stilwissen und Geschmacksschrott, sondern um Seele, Spaß, Denken und Fühlen geht.
ARIEL PINK: WORN COPY (Paw Tracks)
Und noch ein sehr bemerkenswerter Release auf dem Animal Collective-Label: in 17 Songs zelebriert Pink eine Acid-Space-Prog-Pop-Show, die ebenso herrlich intim wie obszön ist. Eine Reise durch einen Phazer. Auf Paw Tracks findet sich derzeit die definitiv erfrischendste Außenseitermusik für Millionen.
DOMOTIC: ASK FOR TIGER
(Active Suspension)
Auch ein Tier-Verwandter: Sté-phane Laporte, der seine enigmatische wie simple Tiger-Musik zwischen Noise, Kraut und Song hin- und herspringen lässt. Und der inmitten seiner eigenwilligen Track-Song-Dickichte immer wieder singt, was uns immer wieder auf falsche Fährten führt. Nur echt mit Donovan-Cover.
GIUSEPPE IELASI: GESINE (Häpna)
A Tribute to Gesine Schwan? Auf jedenfall titelt der italienische Improv-Gitarrist seltsam. Luzid und magisch jedoch sein Spiel auf diesen sechs Tracks zwischen Folk-Drone und Industrial-Country. Sehr prägnant wirkt auch der elektronische Unterbau, und das Cover gehört zum Besten der letzten Zeit.
MORCEAUX DE MACHINES: ESTRAPADE (No Type)
Haha, was schreiben die da? Die B-Boys der Musique-Concrète, sehr schön! Naja, das Duo, trackweise erweitert um u.a. Otomo Yoshihide, gibt sich wirklich alle Mühe, neue Standards für den Digital-noise des 21. Jahrhunderts zu finden, doch Estrapade, angeblich eine Art französischer mittelalterlicher Folter, klingt letztlich gar nicht so betont wild, sondern setzt vielmehr längst vorhandenes Material maximal reduziert neu zusammen. Die Kanadier opponieren großmundig gegen Klischees und Pop, finden sich aber selbst oft in Anti-Pop-Klischees wieder. Punkt aus. Könnte aber live sehr spannend sein.
SCHWABINGGRAD BALLETT: s/t
(Staubgold)
Darauf habt ihr alle gewartet, stimmt’s? Das 2000 bei einem antirassistischem NoBorderCamp gegründete Kollektiv wirklich aller jetzt üblichen polit-, pop- und kunstlinken Verdächtigen (klar fehlt wieder mal die Hälfte!) versammelt alle Schönheiten und Schrecklichkeiten kollektiver linksradikaler Stimmungs-Avantgarde. Und das ist so geilscheisse-geil, das muss man wohl wirklich live hören. Von wegen! Das müsster sofort vergessen, das müsster schon sofort selber machen. Aber erst mal hier reinhören, dass das wohl klar ist!
PET SHOP BOYS PRES.: BACK TO MINE (DMC)
So, jetzt geh ich kacken und hör PSB. Und wer da stört, ist des Todes. Die Back-to-Mine-Serie, auf der Musiker Wurzeln ziehen oder Seelenverwandtes ineinanderrühren, glänzte in letzter Zeit nicht immer mit Hochlichtern. Und jetzt: Wowee! Und zum ersten mal eine Doppel-CD. Tennant mischt in superber Stimmung eklektizistischen Melancholie-Ambient, Klassik und schönstrange Songs, Lowe dagegen, man ahnte es, persönliche Italo-und-Trash-Disco-Klassiker. Die Mischung, wie immer, macht’s. So, ihr “Temporary Music Consumers”, dann bewegt euch mal aus dem Niedriglohnsektor raus!