TERZ 06.05 – STREET ART
Wer in den letzten Tagen mal erkrankte Verwandte im evangelischen Krankenhaus besucht hat oder aus anderen Gründen durch’s lauschige Bilk spaziert ist, wird sie schon gesehen haben: die neue Installation der Gruppe FEHLSTELLE. Neben der Baustelle am Seitenflügel des Krankenhauses prangt eine geballte Ladung von Werbeplakaten auf einem großen Baugerüst mitten vor dem Eingang des Hospitals. Die mehr als dreißig Plakate, von denen einige auch um das Krankenhaus herum angebracht sind, stammen aus verschiedensten Ländern. Vornehmlich aus solchen, deren Sprache hier Aufgewachsene ohne zweitsparchige Anverwandte nicht ohne weiteres verstehen: aus Russland, der Türkei, aus Marokko, China und anderen Gefilden. Das macht sie zunächst einmal interessant, denn obwohl die ganze Stadt mit kommerzieller Werbung zugepflastert ist, neigt man wohl doch dazu, das Ensemble von Schriftzeichen und Bildern decodieren zu wollen. “Ach ja, der Astronaut, schwarzweiss neben dem roten Rechteck, den kenn ich aus der Sparkasse!” mag sich manch eineR denken, um dann feststellen zu müssen, dass das Plakat für die türkische, übrigens erzreaktionäre Zeitung Hürriyet wirbt. Die kennt man vielleicht vom Kiosk an der Ecke, aber wofür wirbt das extreme Querformat mit roten Blumen und blauem Himmel? Und das einzig deutbare Wort auf dem Plakat daneben, nämlich “Sex” muss auch irgendetwas anderes meinen, denn irgendwie will die hier übliche Bedeutung nicht zu der freundlich lächelnden Mittvierzigerin im Ringelshirt mit dem netten kleinen Hund auf dem Arm passen. Auf manchen ist wenigstens eine Flasche drauf, da wird es sich wohl um Maiskeimöl handeln, aber ist das Plakat mit den Ultraschallaufnahmen eines Babys nun Promotion für medizinisches Gerät oder Propaganda militanter AbtreibungsgegnerInnen?
Dass es sich um irgendeine Form von Werbung handelt, ist jedenfalls nicht zu übersehen, und irgendwie gefällt es mir gut, dass diese großformatigen Billboards in ihrer Häufung in dieser lauschigen Altbausiedlung störend wirken – zumal sie nicht dazu dienen, wie sonst an Bauzäunen üblich, den Blick auf eine schäbige Baustelle zu versperren, den kann man weiterhin mit einem Blick nach rechts in vollen Zügen genießen. Klotzig wirkt die Installation, aufdringlich und unangenehm, und das macht gerade ihre Qualität aus. Denn: Warum stört mich diese Ansammlung von ein paar Plakaten, wenn ich heute schon an hunderten vorbeigefahren bin und mir jeden Abend dreißg verschiedene Klingeltöne um die Ohren gehauen werden, wenn ich eigentlich einen Krimi sehen will? Die Ausstellung sensibilisiert zumindest kurzzeitig für die permanente Berieselung, der man tagtäglich ausgesetzt ist. Andererseits ist das wohl kaum im Sinne der ErfinderInnen, denn FEHLSTELLE geht es in erster Linie darum, die Werbung aus ihrem Kontext zu lösen und damit ihrer Wirkung zu entledigen, so dass der Blick geöffnet wird für eine andere Lesart: Das Werbeplakat als Bild – ohne Werbebotschaft.
Ob dieser Plan aufgeht, bleibt abzuwarten. Bei den PatientInnen des Krankenhauses wird wohl noch etwas Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen: “Die ham uns unsre schönen Sonnenplätze hier vollgestellt …”, ist einer nicht ganz zu Unrecht beleidigt, ein anderer meint mit einem Augenzwinkern: “Das ist ein internationales Krankenhaus hier, und jetzt wollen die auf diesem Weg ihre Produkte an den Mann bringen.”
Ob es sich am Ende doch nur um eine perfide “Art & Economy”-Strategie des globalen Kapitalismus handelt, klären die VerschwörungstheoretikerInnen unter der LeserInnenschaft wohl am besten selbst: Am 8. Juni führen FEHLSTELLE und Gäste durch die Installation (weitere Infos unter http://fehlstelle.de).
Importe 2005 – internationale Plakate ist noch bis zum 24. Juni am evangelischen Krankenhaus zu sehen.
krümel