Schlapphüte in der Muckibude

Verfassungsschutz? – mauert skrupellos und arrogant. Staatsanwaltschaft? – schweigt.
Der NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen hat im September mit den letzten Zeug*innen-Befragungen begonnen. Aber es gibt weiterhin Windmühlen, unerledigte Aufgaben und Machtspielchen, die es umzupusten, abzuarbeiten und zu gewinnen gilt. Wenn der Ausschuss denn will. Und wenn Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft ihn lassen.

Am 9. September hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) im Düsseldorfer Landtag die Sommerpause mit einer der wohl letzten Sitzungen zur Beweisaufnahme beendet. Im Mai nächsten Jahres sind Landtagswahlen – bis dahin muss der Ausschuss seinen Abschlussbericht verfasst haben. Hier müssen die Parlamentarier*innen die Erkenntnisse des PUA irgendwie so zusammenstricken, dass es den Anschein erweckt, als sei der Ausschuss seinem Einsetzungsbeschluss von November 2014 gerecht geworden. Wir können aber auch annehmen, dass der Untersuchungsaussschuss einige Dinge in seinen Bericht hineinschreiben wird, die mit ein wenig Hartnäckigkeit tatsächlich weitere Ermittlungen nach sich ziehen werden. Und das wären Punkte von zweierlei Qualität:
Zum einen betrifft dies Inhaltliches – konkret: die Erkenntnisse zum Tod des V-Mannes Thomas Richter alias „Corelli“. Denn es bestehen inzwischen berechtigte Zweifel an der bis­herigen Version, der Ex-V-Mann, der nach seiner Enttarnung im Quellenschutzprogramm unter einer neuerlichen Tarnidentität in Westfalen lebte, sei an einer bis dato unentdeckten Diabetes-Erkrankung gestorben (TERZ 07/08.16). Der Diabetologe Dr. Werner Scherbaum, der nach „Corellis“ Tod 2014 ein Gutachten zur Todesursache erstellt hatte, war im Juni als Zeuge vor den Ausschuss geladen worden. Hier ergänzte er seinen bisherigen Kenntnisstand um eine wichtige, ganz neue Einschätzung. Denn damals habe er in der Analyse, dass „Corelli“ eines natürlichen Todes gestorben sein müsse, nicht an das Rattengift „Vacor“ gedacht, das durch einen künstlich hervorgerufenen, gravierenden Insulinmangel den Tod hervorrufen könne – ganz ähnlich einem tödlichen Überzuckern bei einer Diabetes. Scherbaums Befragung im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Düsseldorf hat nun also dazu geführt, dass die Ermittlungen zum Tod von „Corelli“ (wahrscheinlich) neu aufgenommen werden.

Eng verknüpft mit diesem neuen Fakt ist aber auch ‚Erkenntnis‘ Nummer 2, die, so steht zu hoffen, ihren Weg in den Abschlussbericht der NRW-Landtagspolitiker*innen im Ausschuss finden wird. Nicht zuletzt im „Fall Corelli“ zeigte sich nämlich ganz ungeschminkt, was wir eigentlich alle bereits ahnten, was manche schon immer wussten und was seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 auch stets deutlicher wird: Der Verfassungsschutz ist die Organisation, die ihre Finger so tief im rechten Terror des NSU u.a. haben muss, dass sie mauert ohne Ende.

Keine Rampensau

Das sollte im Sommer 2016 auch der PUA in Nord­rhein-Westfalen zu spüren bekommen. Geladen war zur Zeuginnen-Vernehmung in öffentlicher Sitzung für den 1. Juli die Leiterin der Abteilung „Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus“ im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Sie sollte zum Tod eben jenes V-Mannes „Corelli“ befragt werden, dessen Sterben vielleicht doch keine Laune der Natur war. Die Zeugin hätte gewiss so manches dazu beitragen können, etwaige fortgeführte Kontakte des BfV zu seiner abgeschalteten Quelle „Corelli“ nachvollziehbarer zu machen. Denn nicht zuletzt war es genau die Top-Verfassungsschützerin mit dem schönen Namen Dinchen Franziska Büddefeld, die etwa am 9. April 2014 Teilnehmerin einer Besprechung war, in der u.a. die Bestattung des toten V-Mannes unter Tarnpersonalien besprochen wurde. Nur zwei Tage zuvor war der mysteriös plötzliche Tod des Spitzels entdeckt worden. Er war seinem ehemaligen Arbeitgeber, in dessen BfV-Schutzprogramm er in Paderborn lebte, vermutlich zwischen dem 3. und 7. April 2014 – sozusagen unter den Augen Big Brothers höchstselbst – weggestorben. Als Büddefeld nun in Düsseldorf von den Parlamentarier*innen zu diesem Zusammenhang befragt werden sollte, ... blieb ihr Stuhl leer. Sie war einfach nicht erschienen. Grund: das BfV hatte die Aussagegenehmigung für seine Spitzen-Mitarbeiterin mit der Bedingung verknüpft, dass Büddefeld nur in nicht-öffentlicher Sitzung und nur dann aussagen könne, wenn sie der Sitzung verdeckt zugeführt würde – d.h. durch irgendeinen dunklen Hintereingang und mit schützendem Schlapphut auf dem Kopf und mit Polyester-Bart am Kinn (oder wie sollen wir uns diese „Zuführung“, wie es im Fachjargon der Schließer und Gerichts-Diener*innen heißt, sonst vorstellen?). Als Begründung für dieses ‚geheimnis-wahrende‘ Vorgehen nannte das BfV das besondere Schutzbedürfnis der Identität der Zeugin.

Noch in der Sitzung selbst ließ der Ausschussvorsitzende Sven Wolf (SPD) die Öffentlichkeit wissen, dass der PUA nicht „auf diesen Nötigungsversuch des BfV [...] eingehen“ werde. Die Ausschussmitglieder hätten sich mehr noch darauf verständigt, dass sie „die Zeugin öffentlich vernehmen werde[n], oder gar nicht.“ Das BfV, kündigte Wolf an diesem 1. Juli hörbar wütend an, werde sich mit den politischen Konsequenzen seiner Verweigerungshaltung auseinanderzusetzen haben. Er ergänzte „als persönliches Statement“: „Das ist der absolute Höhepunkt an Bodenlosigkeit des BfV, den ich in diesem Untersuchungsausschuss erlebt habe [...]!“

Und es ist tatsächlich zum Haareraufen, wie unverfroren das BfV hier vorgeht. Es argumentiert mit dem hohen Maß an Schutz, das der Zeugin Büddefeld zuzukommen habe. Einer Person, die öffentliche Auftritte sonst nicht scheut, zum Beispiel, wenn sie hier und da vor Hunderten von Zuschauer*innen und Presseverterteter*innen medienwirksam Verfassungsschutz-Ausstellungen zum Thema „Rechtsextremismus“ eröffnet. Ein Klick auf die Homepage „http://polizei.hessen.de“ erlaubt es, sich problemlos ein paar hübsche Fotos von Frau Büddefeld hinterm Redner*innenpult anzuschauen. „Hier aber, vor dem Parlamentarischen U-Ausschuss, will sie nicht öffentlich auftreten,“ kommentierte Sven Wolf bissig die Arroganz, mit der der Verfassungsschutz hier erneut die Funktion und Autorität des Untersuchungsausschusses in Frage stellte.

Nachhaken mit Anlauf

Nun, nach der Sommerpause, schien dieses Debakel von vor den ‚großen Ferien‘ zunächst wie vergessen. Denn am 9. September setzte der Untersuchungsausschuss seine Arbeit mit der Befragung einer Polizeibeamtin fort, die – kaum fertig mit ihrer Ausbildung – für das BKA in der „BAO [Besonderen Aufbauorganisation] ‚Trio‘“ gearbeitet hatte, jenem Kreis von Beamt*innen, die sich nach dem 4.11.2011 mit den Ermittlungen zu den NSU-Täter*innen Uwe Mundlos, Uwe Bönhard und Beate Zschäpe beschäftigten. In der Sitzung ging es nun im Wesentlichen um die Arbeit der heute 29-jährigen Kriminalpolizistin, die vor allem für die Auswertung von Asservaten – z.B. denen aus der letzten, von Zschäpe in Brand gesteckten Wohnung in der Frühlingsstraße in Zwickau – zuständig war. Erst 2016 hätte sie sich etwa mit der Herkunft der Videoschnipsel im Bekennervideo des NSU beschäfigt – als erste Ermittlerin im gesamten Ermittlungsprozess zum „Paulchen-Panther-Video“ überhaupt. Sie versuchte herauszufinden, ob eine Person, die in der Zwickauer Frühlingsstraße einen Videorekorder bedienen konnte, am 9. Juni 2004, dem Tag des Nagelbombenanschlages in der Keupstraße, dortselbst ‚Westfernsehen‘ hatte empfangen können. Denn das Bekennervideo zeigte Ausschnitte aus einem WDR-Beitrag. Die dahinterliegenden Fragen konnten aber, wie vor Wochen bereits im NSU-Prozess in München, auch im Ausschuss in Düsseldorf nicht geklärt oder nachvollziehbar beantwortet werden: Kann es Menschen im WDR-Sendegebiet gegeben haben, die die Fernsehbilder für den NSU und das „Paulchen-Panther-Video“ aufgezeichnet hatten? Oder hatte Beate Zschäpe in Zwickau die Videoaufnahmen selbst gemacht? Wir wissen es nicht.

Aber was ist denn nun mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dass den Ausschuss so düpiert hatte? Schon vergessen? Überraschenderweise rückten die Abgeordneten dem VS nicht von NRW aus, sondern in Berlin auf die Pelle. Denn am 22. September schlossen sich die NRW-Ausschuss-Mitglieder als Öffentlichkeit demonstrativ der Sitzung des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses an. Es ging: um „Corelli“. Dessen früherer Freund, Thomas M., sagte vor dem Bundestagsausschuss aus. Und wieder einmal gab es erhebliche Zweifel daran, dass es bei dem Tod von Thomas Richter alias „Corelli“ mit rechten Dingen zugegangen ist. Die Anwesenheit des NRW-Ausschusses ist also durchaus als Signal in Richtung BfV zu werten. Der anschließende Austausch mit den Bundestags-Kolleg*innen wird der Frage des Umgangs mit dem BfV gewidmet gewesen sein. Denn wo Mitarbeiter*innen des BfV auf Geheiß ihres Präsidenten Hans-Georg Maaßen nicht vor einem parlamentarischen Gremium eines Landtages aussagen sollten ... wäre eine Aussagegenehmigung vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss doch schwerer ohne Skandal zu verweigern, oder?

Der PUA in NRW lässt es sich also offenbar nicht nehmen, auf die Aufarbeitung gemäß seines Untersuchungsauftrages zu pochen. Auch gegen den Willen des BfV, das jede Aufklärung offenkundig behindern, bestenfalls verhindern zu wollen scheint. Und der Tod des V-Mannes Thomas Richter steht ganz explizit auf der To-Do-Liste des Untersuchungsausschusses.

Und der Wehrhahn-Anschlag?

Zu hoffen bleibt, dass der NRW-Ausschuss auch im Zusammenhang mit einer weiteren, bisher noch vollkommen unbearbeiteten Aufgabe ähnlich druckvoll und interessiert vorgehen wird: Der Aufklärung zu den Ermittlungen nach dem sogenannten Wehrhahn-Anschlag vom 27. Juli 2000. Vor nunmehr über 16 Jahren wurden dort auf der Fußgängerbrücke des Düsseldorfer S-Bahnhofes zehn Menschen durch eine ferngezündete Bombe zum Teil schwer verletzt. Und wie der „Fall Corelli“ sind auch die Ermittlungen zum „Wehrhahn-Anschlag“ ausdrücklich Teil des Untersuchungsauftrages des Ausschusses. Anders als zu allen anderen Themenkomplexen, die der PUA zu bearbeiten hatte und die in der Zwischenzeit wie beschrieben bis auf verbleibende mehr oder weniger große Lücken abgearbeitet sind, gab es bisher keine einzige öffentliche Sitzung, die sich mit dem Anschlag am Wehrhahn-S-Bahnhof beschäftigt hat. Das Dokumentations- und Rechercheprojekt NSU-Watch NRW hat deshalb noch vor Wiederbeginn der Befragungen Anfang September darauf hingewiesen, dass Eile und Sorgfalt geboten sind, sich mit dem Thema öffentlich auseinanderzusetzen, da doch das Ende der Befragungsphase im PUA noch im Herbst in Sicht ist. Wie im Dialog mit NSU-Watch NRW verkündete Sven Wolf nun am 9. September, dass der PUA „Ende Oktober / Anfang November“ das Thema zu bearbeiten gedenke. Immerhin. Doch es könnte auch hier schwierig werden mit der Herstellung der Öffentlichkeit – oder einer „Beweisaufnahme“ im Ausschuss schlechthin. Denn die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hat die bereits vor langer Zeit eingestellten Ermittlungen zum Wehrhahn-Anschlag spätestens im Sommer 2015 wieder aufgenommen. WDR und Rheinische Post berichteten seinerzeit aufwändig über die neuerlichen Ermittlungen. Diese dürften auch dazu führen, dass die relevanten Akten den Ausschussmitgliedern im PUA wenn überhaupt nur als „vertrauliche Verschlusssache“ zu Gesicht kommen dürften. Eine öffentliche Aufarbeitung der damaligen und heutigen Ermittlungen wird auf dieser Grundlage kaum möglich sein. Eine Sprecherin von NSU-Watch NRW kommentierte hierzu: „Was auch immer zu der Wiederaufnahme geführt hat: Inzwischen wurde länger als ein Jahr neu ‚ermittelt‘, so dass in Zweifel zu ziehen ist, dass hierbei relevante Ergebnisse erzielt wurden bzw. noch erzielt werden können. Die vorgenommene Einstufung erschwert die Aufklärungsarbeit und verhindert eine öffentliche Thematisierung. Es bleibt der Verdacht, dass behördlicherseits kein Interesse an einer eingehenden Beschäftigung mit dem Thema besteht – zumindest nicht in öffentlichen Sitzungen.“

Angesichts dieser weiteren Herausforderung, ein noch gänzlich unbearbeitetes Thema vielleicht nur eingeschränkt bearbeiten zu können, weil diesmal die Staatsanwaltschaft Düsseldorf über ihre Ermittlungsarbeit schweigt, ist dem PUA vielleicht ausnahmsweise Glück zu wünschen. Neben Glück braucht es aber auch Durchsetzungs-Willen. Und den ehrlichen Wunsch, offene Fragen zu klären und etwa den Betroffenen von rechter Gewalt ein Signal zu senden: dass Taten, Täterschaft und durch das V-Leute-System staatlich gewährtes Futter für die rechte Szene, die Menschen angreift, verletzt und tötet, nicht ungesehen bleiben dürfen. Über Konsequenzen reden wir später.

Also, nicht vergessen:
We will watch you!