Unentbehrlich

10 Jahre Fachberatung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in NRW

In Dortmund entstand die Fachberatungsstelle BackUp im November 2011. Ein gutes halbes Jahr später begann im Sommer 2012 die Opferberatung Rheinland (OBR) mit ihrer Arbeit – zunächst am Beratungsstandort Aachen, seit einigen Jahren auch in Düsseldorf. Von Dortmund und Düsseldorf aus beraten die Fachkräfte von BackUp und der OBR Menschen, die von rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt betroffen sind. Je nachdem, wo der Angriff stattgefunden hat, ist die jeweilige Einrichtung in Westfalen oder im Rheinland Ansprechpartnerin für Betroffene, Angehörige und Freund*innen oder mittelbar Betroffene, wie etwa Tatzeug*innen. Sie können nach einem Angriff gemeinsam mit den Berater*innen klären, was als nächstes zu tun sein kann. Welche medizinische Versorgung braucht es nach Verletzungen? Kann eine Anzeige bei der Polizei ein nächster Schritt sein? Was ist zu tun, wenn Strafermittlungsbehörden bereits eingeschaltet sind oder ermitteln?

Ziel ist, die Betroffenen darin zu unterstützen, das zu tun, was für sie selbst wichtig ist. In diesem Rahmen bewegt sich jeder Beratungsschritt, auf Wunsch an der Seite der Berater*innen. Konkret geht es um die Begleitung zu Ärzt*innen, wenn dies gewünscht ist, um die Vermittlung von psychologischer Hilfe, um ein Zurhandgehen bei der Beiantragung von Hilfe- und Entschädigungsleistungen. Auch wenn Zeug*innenaussagen bei der Polizei gemacht werden (sollen) und ein Gerichtsprozess ansteht, sind die Beratungsstellen gefragt.

(K)Eine Frage der Einordnung

Die Beratung orientiert sich dabei strikt am Prinzip der Parteilichkeit – das Erleben der Ratsuchenden steht im Mittelpunkt. In ihrer Sicht darauf, was als „Gewalt“ zu begreifen ist, blicken die Opferberatungsstellen darum auch darüber hinaus, was im Strafgesetzbuch als Gewalt gewertet wird. Auch geht es nicht allein um rechte, rassistische und antisemitische Taten. Diese drei Schwerpunkte liegen gewiss auch weiter im Hauptblickfeld der Beratungsstellen. Ihre Arbeit ist heute aber noch viel differenzierter. Denn gemeint ist das ganz Spektrum gewalthafter Angriffe, die im Kontext von Abwertungen und Diskriminierung fußen. So umfasst das Arbeitsfeld der Opferberatungsstellen etwa auch LGBTIQ*-feindliche Gewalt, Angriffe gegen Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, Gadjé-rassistische Gewalt gegen Rom*nja und Sinti*zze sowie Angriffe gegen Menschen mit Behinderung.

Seit 2017 erheben OBR und BackUp in einem gemeinsamen, unabhängigen Monitoring Zahlen zu Gewaltangriffen in NRW. Für 2021 hielt das Monitoring 213 Taten fest, direkt betroffen waren 339 Menschen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Angriffe damit um 7,6 %. Dass die Strafermittlungsbehörden mit ihrer eigenen Statistiken für 2021 einen Rückgang der Angriffe festhalten, zeigt sich bei den Beratungsstellen mit ihrem spezialisierten Blick also nicht. In ihrem Monitoring wird außerdem sichtbar, dass Rassismus mit 133 Angriffen weiterhin das häufigste Tatmotiv ist – in seinen unterschiedlichsten Formen, etwa als Gewalt gegen Geflüchtete, als antimuslimischer Rassismus, Anti-Schwarzer Rassismus, Gadjé-Rassismus oder Anti-Asiatischer Rassismus. Angriffe gegen Menschen, die von Täter*innen als „politische Gegner“ gesehen werden, gab es in 2021 in 34 „Fällen“. Das Monitoring zählt für NRW außerdem 17 sozialdarwinistisch motivierte Taten, 12 antisemitisch motivierte Angriffe und sechs Taten gegen LGBTIQ*. 23 der 213 Taten wurden in Düsseldorf verübt.

Notwendige Absicherung

Nun ziehen OBR und BackUp eine Bilanz über ihre Arbeit der letzten zehn Jahre: Sie ist und bleibt notwendig und unentbehrlich wie eh und je. Zugleich ist es Zeit für Veränderungen, für einen verfeinerten Blick – wie die Beratungsstellen selbst sagen. Denn nicht ohne Grund nahmen OBR und BackUp ihr 10-jähriges Bestehen am 14. September 2022 zum Anlass, sich im Rahmen eines Fachtags mit Kolleg*innen und Gästen aus der Sozialen Arbeit und Beratungslandschaft, aus Hochschulen, Fachexpert*innenkreisen und mit Vertreter*innen aus Politik und Landesverwaltung darüber auszutauschen, dass Diskriminierung und Gewalt auch auf miteinander verschränkten Motiven beruhen kann. Vorträge und Workshops widmeten gewissen Leerstellen im Umgang mit „(Un)Sichtbarkeit von Mehrfachdiskriminierung“ in der Beratungsperspektive.

Dem Fachtag ging eine Pressekonferenz voraus. Hier wurde einmal mehr deutlich, dass die Arbeit der Fachberatungsstellen nur dann in der notwendigen Sorgfalt umgesetzt und weiterentwickelt werden kann, wenn sie es sich leisten können. Zeit ihres Bestehens erhalten BackUp und OBR Fördermittel aus dem Landeshaushalt von NRW, inzwischen auch aus Bundesmitteln.

Verena Schäffer, GRÜNEN-Fraktionsvorsitzende im Landtag von NRW, betonte in ihrem Grußwort, dass die Opferberatungsstellen „fester Bestandteil in der Arbeit gegen menschenverachtende Einstellungen, rechte Gewalt, Hass und Hetze“ seien. Sie ergänzte, dass die schwarz-grüne Regierung im Koalitionsvertrag ihre Absicht zum Ausdruck gebracht hat, die Beratungsstrukturen finanziell zu stärken und dauerhaft abzusichern. Hermann Lamberty, Leiter der Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus und Rassismus, spitze es ganz praktisch zu: Bis vor kurzem wurden die Opferberatungsstellen jeweils nur für ein Jahr gefördert, aktuell sei der Rhythmus, in dem Anträge gestellt werden müssen, auf zwei Jahre verlängert worden.

Im Alltag heißt das: Zehn Jahre lang haben die Berater*innen jedes Jahr auf‘s Neue mit der Sorge leben müssen, am 1. Januar beruflich auf der Straße zu stehen. Dass es nun zwei Jahre sind, die sicher gefördert werden, macht es kaum besser. Alles außer einer auf Dauer gesetzten Förderung kann und muss darum in klarem Widerspruch zu lesen sein dazu, dass den Beratungsstellen und ihren Mitarbeitenden ein horrendes Maß an Verantwortung auf die Schultern gelegt wird dafür, im „Reparaturbetrieb“ klare Kante gegen Nazis und Rassist*innen, gegen Ideologien und Strukturen des Diskriminierens zu zeigen.

Fanny Schneider