„You are the man who gave them the power to destroy themselves“

Von der Batman-Dystopie zu „Oppenheimer“. Mit Action-Kino-Blockbustern hat sich Christopher Nolan einen Namen gemacht. Ins Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt hat sich mir „The Dark Knight“ mit Heath Ledger als Joker. „Oppenheimer“ ist mehr als ein Biopic.

„Batman Begins“ war der Auftakt zu Nolans Batman-Trilogie. Georg Seeßlen hatte 2005 in seiner Rezension angemerkt: „Es scheint, als könnte da ein junger Regisseur seinen künstlerischen Eigensinn auch gegen die Zwänge der Traumfabrik bewahren. Nolan mischt Dostojewski, Hitchcock und David Lynch zu einer Art von Kino, das sich von der Hollywood-Dramaturgie ebenso befreit wie von der Diktatur des psychologischen Realismus.“ Der US-britische Regisseur erzähle „wie die moderne Literatur, im Ungewissen, von Mordkomplotten und Gedächtnisverlust, von der Verführung des Bösen und vom Verirren im Seelenlabyrinth.“

Längst hat die Realität so manche Leinwand-Dystopie eingeholt. Ich erinnere mich, wie ich Juni 1987 in einem improvisierten Hinter­hofkino in Berlin SO 36 John Carpenters „Die Klapperschlange“(1981) sah. In den 1980er Jahren, so die Filmerzählung, sei die Kriminalität in New York derart angestiegen, dass herkömmliche Gefängnisse nicht mehr ausreichten. „Daher wurde Manhattan 1988 aufgegeben und die ganze Insel in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt.“ Eine hohe Mauer umschließt diesen Stadtbezirk: „Alle Brücken, die aus der Stadt herausführen, sind vermint.“ Zu allem Unglück muss die Airforce One mit dem Präsidenten an Bord in Manhattan notlanden. Snake Plissken (Kurt Russel) erhält den Auftrag, den Präsidenten dort wieder rauszuholen. Wenige Tage vor der Vorführung war der reale US-Präsident (Ronald Reagan) nach Berlin eingeflogen worden. Medienwirksam betrat er die Tribüne, die vor der Mauer am Brandenburger Tor errichtet worden war, und sprach die berühmten Worte: „Mr. Gorbatschow, open this gate! Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“[1]

Damit Reagan nicht das gleiche Schicksal ereilte wie den Präsidenten im Film und er in die Hände von „Anti-Berlinern“ (ein vom regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen in jenem Jahr geprägter Begriff) fiel, war an jenem Tag vorsorglich ganz SO 36 zur Innenstadt hin abgeriegelt worden. Nach Osten hin war auch alles dicht, dort stand die Mauer. Bei der Filmvorführung in SO 36 grölte das Publikum bei den Szenen im abgesperrten Manhattan. Die auf dem Set abgebrannten Kolophonium-Feuerchen – Hintergrundkulisse bei Snake Plisskens Auftritten – waren allzu lächerlich, verglichen mit dem pyrotechnischen Spektakel, das wenige Wochen zuvor in SO 36 gegeben wurde. Es war jener legendäre 1. Mai, bei dem nicht nur etliche Autos abgefackelt, sondern auch der Bolle-Supermarkt in Flammen aufging und völlig niederbrannte. Carpenters Film kam also in keinster Weise an diese realen Zerstörungen ran.

„If you don‘t fight like hell ...“

Am 6. Januar 2021 hat die Realität nun endgültig selbst die krudesten Plots des Mainstream-Action-Kinos eingeholt. Donald Trump sozusagen in der Rolle des „Joker“: der scheidende US-Präsident rief zum Sturm aufs Kapitol auf, um seiner verfahrensmäßigen Entthronung zuvorzukommen. Sein persönlicher Anwalt heizte die gewaltbereite Menge an: „If you don‘t fight like hell, you‘re not gonna have a country anymore.“ Im gestürmten Kapitol zoomt eine Kamera auf ein T-Shirt, Aufschrift: „Camp Au­schwitz“. Trump als bad guy, was seinen Buddy Putin automatisch ebenfalls zum bad guy werden ließ und dessen Gegenspieler Biden in plumper Batmanlogik zum good guy – ein Plot, der dem US-Publikum in Medien und auch von Moderatoren wie Stephen Colbert und Trevor Noah eingeimpft wurde. Derartig simple Dualismen hat Nolan stets vermieden. Reagan, Trump, Biden, Obama sind ihm einfach eine Nummer zu klein. Lediglich Harry S. Truman hat in seinem „Oppenheimer“ einen kurzen Auftritt. Der reale Präsident hatte den Wissenschaftler einst hinterrücks als Heulsuse („a cry baby scientist“) beschimpft und Order erteilt, ihn nie wieder ins Office vorzulassen. Denn der Atomphysiker hatte sich nach dem II. Weltkrieg für Abrüstung und internationale Rüstungskontrolle eingesetzt. Zwei Jahrzehnte nach Erfindung der Bombe zitierte Oppenheimer aus der Bhagavad Gita Worte des sich in ein mehrarmiges Monster verwandelnden Vishnu: „Now I am become death, the destroyer of worlds." Aktuell ist ein wahnwitziger Wettlauf entbrannt, ob die Menschheit sich schneller durch die Eskalation von Kriegen und immer gigantischeren Rüstungsanstrengungen oder durch die menschengemachte Klimaerwärmung auslöschen wird. Symbolisch findet sich das im Film in der Szene beim Trinity-Test verdichtet, beim „Push on the Button“. Den Wissenschaftler*innen war nicht wirklich klar, was passiert. Es gab die, wenn auch geringe, theoretisch kalkulierte Möglichkeit, dass die Kernspaltung sich in der Atmosphäre fortsetzt und die ganze Welt in wenigen Sekunden vernichtet würde.

Gedächtnisverlust, Verführung des Bösen und Verirren im Seelenlabyrinth

„You are the man who gave them the power to destroy themselves“, hören wir im Trailer Oppenheimer beim Selbstgespräch zu. Die „Doomsday Clock“, die das Bulletin of the Atomic Scientists Jahr für Jahr publiziert, war 1947 mit der Zeigerstellung sieben Minuten vor zwölf gestartet. Seit dem 25. Januar 2018 stand sie auf zwei Minuten vor zwölf, am 24. Januar 2023 wurde sie von den Wissenschaftler*innen – darunter etliche Nobelpreisträger*innen – auf nunmehr 90 Sekunden vor High Noon gestellt.

Doch nicht die Kernspaltung, sondern die Person Oppenheimer steht im Zentrum des Films. Cillian Murphy spielt den Wissenschaftler als „einen Asketen, dessen Leben vor allem im Geist stattfindet“, so Simone Reber in ihrer rbb-Kritik. Oppenheimer ernähre sich von „Zigaretten und Martini, ist von glasklarem Verstand, taumelt aber durch sein Liebesleben.“ Wie „Batman Begins“ handelt auch „Oppenheimer“ von der „Verführung des Bösen und vom Verirren im Seelenlabyrinth.“ Nolan erzählt sein dreistündiges Filmepos auf drei Zeitebenen. Als Vorlage fürs Skript habe ihm Bird und Sherwins „American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer“ gedient. Aber auch Heinar Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“(1968 ins Englische übersetzt) scheint Inspirationsquelle gewesen zu sein. Kipphardts Inszenierung fokussiert auf den Untersuchungsausschuss der Atomenergiekommission zur Überprüfung von Oppenheimers Loyalität im Jahre 1954. Diese Anhörungen bilden eine der drei Zeitebenen. Eine weitere ist die Senatsanhörung des Handelsministers und Mitbegründers der US-Atomenergiekommission, Lewis Strauss. Die dritte die Entwicklung der Bombe selbst. Am Ende des Films konfrontiert uns der Regisseur schließlich mit einer Variante der Banalität des Bösen (verraten wird hier nix!). Der Vorwurf kommunistischer Umtriebe gegen den Wissenschaftler – in der McCarthy-Zeit fast schon ein Todesurteil – war nur vorgeschoben. Durch den Film wird unser Glaube, dass die US-Administration nur ein Fünkchen vertrauenswürdiger sei als die im Kreml, gründlich erschüttert.

Ich will hier noch an ein wichtiges Datum erinnern: Am 16. Juni starb Daniel „Dan“ Ellsberg. Schlagzeilen machte der Whistleblower 1971 durch die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere, welche die jahrelange Täuschung der Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg aufdeckte. Die wirklichen Kriegsziele waren von mehreren US-Regierungen in Folge gezielt falsch dargestellt worden. Anlässlich von Dans Tod hatte „Democracy Now!“ ein Interview gesendet, das vor wenigen Jahren aufgenommen wurde. Ellsberg erinnert sich da, wie er einst eine Anfrage an die US-Administration stellte. Er wollte wissen, wie viele Tote es in Folge eines nuklearen Erstschlags der USA weltweit geben würde. Er ging davon aus, dass die Militärs und die US-Administration sich über die Dimensionen nicht im Klaren seien. Er war verblüfft, dass die Antwort sehr schnell kam. Die Zahlen waren vom Pentagon offensichtlich längst ermittelt: 600 Millionen Tote, ein hundertfacher Holocaust, wie Ellsberg im Interview unterstrich. Das ist also das „Restisiko“, das im Weißen Haus als möglicher „Kollateralschaden“ ihrer Politik in Kauf genommen wird.

Batmans Birthday

Aus Anlass des 75. Geburtstags der Comicfigur im Fledermauskostüm, die 1939 das erste Mal in Heftform erschien, konstatierte vor neun Jahren Norma Schneider: „Seit 75 Jahren scheitert Batman daran, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen“. Nolans „The Dark Knight Rises“, der dritte Film seiner Trilogie, erhielt von der US-Kritik miserable Noten. Der Film sei „ein großes (und faschistisches) Spektakel“ (Andrew O’Hehir). Georg Seeßlen stellte im Juni 2013 im Tages-Anzeiger die Frage: „Wie ‚faschistisch’ sind eigentlich Superman, Batman & Co?“ Er merkte zur „Nolanisierung des Superhelden“ an: „Was immer Superman und Batman verteidigen, die Demokratie ist es nicht.“ Insbesondere der dritte Teil der Trilogie sei „eine kulturpessimistische Geste gegen die Masse, gegen das Volk und gegen die Demokratie; nur der todessehnsüchtige, elitäre, verachtende und soldatisch geformte Mann oder Supermann kann sich der Gefahr stellen, die aus dem chaotischen, ungeformten, organischen stammt: aus dem Volk.“

Nolans „Oppenheimer“ ist aus anderem Holz geschnitzt. Der Film ist allerdings alles andere als ein Loblied auf die real existierende US-amerikanische Demokratie. Sozialistische Massen, die sich „gegen das System“ erheben – ein Lieblingsplot des Sozialistischen Realismus – suchen wir in dem oppulenten Leinwandspektakel gleichfalls vergebens. Im Gegensatz zu der Batman-Figur zeichnet Nolan seinen „Oppenheimer“ jedoch keineswegs als eine „Art Freelance-James-Bond mit labiler Psyche“, wie Nora Schneider die Comicfigur sehr treffend charakterisierte. Nolan zeigt uns vielmehr einen Wissenschaftler, der trotz aller inneren Widersprüche und Selbstzweifel sich widersetzt, der – im realen Leben – daran zerbricht, sich aber nicht unterwirft. „Oppenheimer“ lief nicht wie so viele andere Antikriegsfilme in linken Nischenkinos. In den USA belegt der Film, gemessen an der Anzahl verkaufter Kinokarten, sogar hinter „Barbie“ den erfolgreichsten Platz 2 aller Zeiten.

Thomas Giese

[1]  Nachdem die Mauer weg war, wurde „Gorbi“ schnell vom Westen fallengelassen; für den Westen war nun Jelzin „der Mann“, und der sorgte dafür, dass westliches Kapital ungehindert in Russland einströmen und Multis das Land ungehindert ausplündern konnten; erst Putin war es gelungen, Russland wieder halbwegs zu sanieren, was ihm bis heute eine große Anhängerschaft sichert.