Festival-Eindrücke zum Spätsommer und was wir dort gediggert haben!

Wie versprochen, besprechen wir nach der Sommerpause wieder physische Tonträger und fangen an mit Sonic Youth! Eine der wichtigsten und wegweisendsten IndieBands des letzten Jahrhunderts beglückt uns posthum mit einem Live-Album. Nicht irgendeinem Live-Album, sondern der Abschiedsshow, aufgenommen am 12.08.2011 in Williamsburg Waterfront, Brooklyn, NY. 17 Songs aus dreißig Jahren Bandgeschichte werden in knapp 1,5 Stunden zelebriert. Der langjährige Live-Engineer Aaron Mullan hat die Mehrspuraufnahmen getätigt. Das Mastering und der Vinyl-Cut kommen von Carl Saff. Schon alleine diese beiden Namen machen klar, dass hier keine Bootleg-Qualität geboten wird! Wahnsinnig laut, druckvoll, brachiale Live-Qualität, dabei aber trotzdem klar und erkennbar. Ein versöhnliches Highlight in diesem Jahr, leider fehlen meine beiden SY-Lieblingssongs: 100% und Youth Against Fascism. Aber bei solchen Alben kann man es den Fan-Boys und Geek-Girls wohl nie recht machen. Der würdige Abschluss für das Ende einer unserer Lieblingsbands (und keineswegs Grabräuberei), deren Soloprojekten wir uns bisher verweigert haben! Leider habe ich SY nie live gesehen, Mrs. Cave dafür dann aber zweimal. Unter anderem auch hier in Düsseldorf, im Rahmen der inspirierenden Sensational Fix Ausstellung. Davon erzählt sie noch heute, besonders wenn sie mich ärgern will! Erschienen in den USA auf Silver Current Records, sollte aber bei jedem gut sortierten Händler erhältlich sein.

Bonnie Prince Billy aka Will Oldham beglückt uns mit Keeping Secrets Will Destroy You, seinem neuestem Album. Das wievielte können wir gar nicht mehr sagen. Bei der Fülle an Veröffentlichungen haben wir den Überblick verloren, schätzungsweise #43. Im Kontrast zu Sonic Youth entführt uns der Prince ruhig und gemütlich nach Louisville. Die Begleitmusiker drängen sich nie in den Vordergrund, sondern legen gemeinsam mit dem verzaubernden Gesang von Will Oldham eine warme Decke für den kommenden Herbst auf uns. KSWDY kommt ohne Schlagzeug aus, wird dafür aber von Streichern (Bratsche, Mandoline, Violine), Klavier, Saxophon unterstützt. Der Hintergrundgesang von Dane Waters vervollständigt den wunderschönen, harmonischen Eindruck von KSWDY. Will Oldham verarbeitet in den Texten die Erfahrungen seines Lebens auf der einen Seite und die Ängste der Gegenwart andererseits sehr intim und nimmt uns mit an den heimischen Küchentisch, während seine Familie schläft. Diese heimelige Atmosphäre wird unterstrichen durch die Aufnahme in einem Raum, anstatt wie sonst üblich, jedes Instrument im entsprechenden Studio einzuspielen. Wir freuen uns auf die gemeinsamen Herbstabende mit BPB bei einem guten Glas Whisky (+ schokolierte Kürbiskerne!) und einem heißem Tee und einem Album, das den Charme von gemütlicher Hausmusik im Kreise der Oldham-Familie vermittelt.

Jetzt wird es wieder krachiger: von The DEAD C aus Neuseeland, sind die drei wegweisenden Alben The Operation Of The Sonne (1993), The White House (1995) und Tusk (1995) wiederveröffentlicht worden. Damals alle auf Siltbreeze veröffentlicht, teilweise nur auf CD, hat sich nun Ba Da Bing! aus Brooklyn, New York „erbarmt“ und diese drei Noise-Rock-Klassiker wiederveröffentlicht. Alle drei Alben wurden neu gemastert und extra laut geschnitten, ich drehe den Verstärker beim Hören runter und das soll schon etwas heißen! Außerdem enthalten alle drei Alben unveröffentlichte Bonus-Tracks. Widmen wir uns aber der Musik von The Dead C: laut, brachial, destruktiv, zerstörend, dazu legt sich der disharmonische Sprechgesang von Michael Morley wie heißer Asphalt auf den lauen Sommerabend. Alle Alben sind auf ihre Art einzigartig, abgedreht und weird. Teilweise dröhnt, fiept und quietscht es einfach nur 10 Minuten lang vor sich hin, der nächste Track ist dann wieder eine verzerrte Gitarrenwand. Ich bin begeistert, Mrs. Caves Tinnitus-geplagte Ohren weniger.

Von Neuseeland geht es über die Tasmanische See nach Australien zu Dust und Ihrer Et Cetera, Etc EP, erschienen auf Kanine Records, Brooklyn, New York, USA. 8-mal Post-Punk, mit Saxophon, welches aber nicht stört. Sehr kühl und treibend, Dust klingen nach UK, der Song Joy (Guilt) könnte auch von den Idles oder Shame eingespielt sein. Eine sehr schöne und treibende EP, die Lust auf mehr macht, mal schauen wann der erste Longplayer erscheint.

Jetzt wenden wir uns den Festival-Entdeckungen zu und fangen an mit Ditz aus Brighton, UK. Ihr Debut The Great Regression ist zwar schon von 2022, aber Anfang des Jahres auf ECO-Vinyl (Recyceltem Vinyl), auf Alcopop! Records wiederveröffentlicht worden. Ditz haben beim diesjährigem „Watt en Schlick Fest“ in Dangast gespielt. Gesehen haben wir die leider nicht, nur gehört, denn es hat in der Stunde des Auftritts in Strömen geregnet. Was aber unsere Ohren erreichte, klang amtlich. Auch hier müssen Shame als Referenz herhalten, wobei Ditz noch eine gehörige Kante Industrial beinhalten, welches an den eingespielten Samples und Effekten liegt. Infos über Callum Francis, den Frontmenschen, sind nicht einfach zu finden. Als ich mich auf die Facebook-Seite von Ditz begab, stellte ich fest, dass just an diesem Abend eine Show mit Ditz im „Vier Linden“ stattfinden sollte. Obwohl ich echt im Lack war vom RgR-Festival im Volksgarten einen Abend zuvor, schwang ich mich kurzerhand aufs Rad und hatte zum Glück nur einen Song verpasst. Callum Francis gab an diesem Abend alles, und das meine ich wortwörtlich so. Leitern, die für den Bühnenaufbau genutzt wurden, Trageelemente auf der Bühne, Boxentürme und auch eine der vier Linden wurden erklettert und in die Bühnenshow einbezogen! Bei der Linde hatte ich schon die Befürchtung, dass wir das „Vier Linden“ in „Drei Linden“ umbenennen müssen. Der Rest der Band prügelte wie besessen auf die Instrumente ein und schwitzte sich an diesem schwülen Sonntagabend im August die Seele aus dem Leib. Ein hartes und energiegeladenes Set von der ersten Minute an, einfach nur brutal. Dazu die Performance von Frontmensch Callum Francis. Die Cover-Version von Peaches – Fuck The Pain Away auf der ersten 5-Song EP erscheint nun in einem komplett anderem Licht! Ich bin jetzt noch geflasht!

Zeitgleich zu Ditz spielten beim „Watt en Schlick“, sehr ärgerlich, auch Ghost Woman. GW besteht hauptsächlich aus Evan Uschenko, einem kanadischen Multiinstrumentalisten, der in Arizona lebt. Als Referenz fallen mir die Seeds oder die Black Angels ein. An einem sonnigen Vormittag in Oberbilk liefert der psychedelische Präriesound das perfekte Wüstenfeeling ab, um Lust auf ein kaltes Bier beim Tippen zu kriegen. Für Fans und Freund*innen des Desert-Rocks also unbedingt empfehlenswert. Das selbstbetitelte Debütalbum ist aus dem Jahr 2022, wurde aber Anfang 2023 nachgepresst und ist somit wieder erhältlich. Das Zweitlingswerk Anne, If hängt in der Backorder, wird aber hoffentlich bald Oberbilk erreichen. Beide Alben sind auf Full Time Hobby, einem Label aus London, veröffentlicht worden.

Live auf der Fusion haben Takh aus Gent, Belgien gespielt, die uns von einer Genossin wärmstens an das Herz gelegt wurden. Ehemalige Mitglieder von The Black Heart Rebellion haben nach der Bandauflösung 2021 Takh gegründet. Das Label Consouling Sounds, auch beheimatet in Gent, steht nicht umsonst für progressive Rockmusik. Post-Alternative, gibt es das schon? Wenn nicht, habe ich das jetzt kreiert. Natürlich kommen auch die Post-Rock- / Metal-Einflüsse nicht zu kurz. Ein dynamisches, treibendes Album, welches mich vom Aufbau her an ruhigere Neurosis erinnert und vom Sound her gut auf Relapse gepasst hätte. Hinter den tribal-artigen Beats und in der Ruhe des Albums liegt eine unterschwellige Wut, die nur darauf wartet auszubrechen. Der melancholische Gesang von Annelies Van Dinter ergänzt sich mit den Shoutings von Pieter Uyttenhove. Vielen Dank nochmal nach Flingern für diesen Tipp!

Der Abschluss ist wieder Düsseldorf und Stefan Schneider gewidmet. Auf Bureau B ist die Kompilation V.A. - Klar!80 erschienen. Klar!80 war ein Kassettenlabel, welches von Rainer Rabowski betrieben wurde und „natürlich“ in Düsseldorf beheimatet war. Er selber hat zum Beispiel bei Roter Stern Belgrad und Und Piloten mitgewirkt, die mit mehreren Tracks auf der Kompilation vertreten sind. Desweitern Xao Seffcheque Und Der Rest, Xao Solo, CHBB (Chrislo Haas & Beate Bartel) und viele andere. Die Kompilation lässt mich die Jahre 1980 bis 1982 neu entdecken. Ich kannte keinen einzigen Track und musste beim Eintragen des Tapes bei Discogs (ja, es gibt nicht nur Vinyl und CD, sondern auch eine Kassetten-Edition) die Suchmaschine sehr sorgfältig anwenden. Da ich 1980 aber erst 13 Jahre alt war und damals noch Deep Purple und Whitesnake favorisierte, verwundert mich das auch nicht weiter. Der Geschichtsunterricht zum Thema Musikalischer Untergrund in Düsseldorf lohnt sich wirklich. Ich kann allen Düsseldorfer*innen nur wärmstens empfehlen, diese Unterrichtsstunde nachzuholen und sich die passenden „Schulbücher“ bei Hitsville oder A&O zu besorgen! Stilecht hat natürlich Detlef Funder aka Konrad Kraft die alten Tapes in seinem Paraschall Studio gemastert. Im direkten Vergleich klingt das Tape sogar ein wenig besser als die LP und die hat schon ein ordentliches Mastering erhalten! Geboten wird hier natürlich allerhand obskures Zeugs, ich wäre aber auch enttäuscht, wenn es anders wäre! Die Klar80! Kompilation ist die ideale Ergänzung oder Vorbereitung für die Sammlung - Elektronische Kassettenmusik, Düsseldorf 1982 – 1989 Kompilation. Diese ist 2017 auf Bureau B erschienen und wurde auch von Stefan Schneider zusammengestellt. Stefan Schneider haben wir Anfang August live im Lama-Garten gesehen. Dort hat er sein wunderbares Stück Froschteich vorgestellt, wir hoffen, es kommt eine 12“ hinterher!

So, das war es dann und bis nächsten Monat, euer Oberbliker. Diesmal mit weniger Mrs. Cave, die ist nämlich im Urlaub und hat nur aus der Ferne Korrektur gelesen.