Zum Jahres-ende-wechsel-beginn ...

... gibt es Rückblicke, Aktuelles und noch einmal Raccoone Records.

Mit der Postrock-Band Explosions In The Sky (EITS) gehen wir in den Sommer zurück. Nach sieben Jahren haben sich die Texaner wieder ins Studio begeben und ihr siebtes Album End eingespielt. (Der Soundtrack Big Bend (An Original Soundtrack For Public Television) aus dem Jahr 2021 zählt nicht als Studioalbum.) Mit dem Vorgängeralbum, The Wilderness haben EITS 2016 im Rahmen des „New Fall“-Festivals den Robert-Schumann-Saal bespielt und sind seitdem gerngesehene Gäste auf dem Oberbilker Plattenteller. Der unverkennbare Sound mit sphärischen Synthesizer-Klängen im Wechsel mit brachialen Gitarrenwänden und getrieben vom typischen EITS-Schlagzeug ist Postrock pur. Wie die Vorgängeralben kommt End auch wieder ohne Gesang aus und ist dabei einem Oberthema gewidmet. „Unser Ausgangspunkt war das Konzept eines Endes - der Tod oder das Ende einer Freundschaft oder Beziehung“, erklärt die Band. Das erklärt vielleicht auch, warum das Album in manchen Momenten hart an der Grenze zum Kitsch operiert, dann aber wieder zur Katharsis zurückkehrt. Dass die Texaner schon diverse Soundtracks, auch für Naturdokus, eingespielt haben, lässt sich ebenfalls nicht verleugnen. Trotzdem ist End unsere Empfehlung für den gemütlichen Leseabend zuhause, denn Kitsch kann auch mal der Seele gut tun!

Anfang November kam das 13. Album von Laura Veirs auf den Markt: Phone Orphans. Laura hat es von 2016 bis 2022 alleine mit einer Sprachnotiz-App in ihrem Wohnzimmer in Portland aufgenommen. Alle 14 Songs sind unbearbeitet und wurden nur von Josh Bonati in seinem New Yorker Studio gemastert. Sie alleine mit Akustikgitarre lässt uns diesmal noch intimer als sonst an Liebe und Leben teilhaben. Ihre langjährige Freundin Neco Case hat zu Phone Orphans nur geschrieben: “Laura Veirs ist the most underrated guitar player I know and one of the greatest singer-songwriter there is.“
Mehr möchten wir an dieser Stelle auch nicht mehr hinzufügen.

Timber Timbre aus Kanada haben auch sechs Jahre gebraucht, um ihr siebtes Album Lovage im Oktober diesen Jahres zu veröffentlichen. Mastermind Taylor Kirk startet mit Unterstützung von Adam Bradley Schreiber an Drums/Percussion und dem Keyboarder Michael Dubue seine persönliche Reise, die einen nach mehrmaligen Hören immer mehr zum Mitfahren einlädt. Mrs. Cave fühlt sich an eine Mischung aus Get Well Soon, Leonard-Cohen-Chören (Voices Of Praise Gospel Choir) und ruhigem Nick Cave erinnert. Dazu Vaudeville- und Chanson-Versatzstücke, gepaart mit Taylor Kirks prägnanter Stimme, Vintage-Synthesizern, alt klingenden Tasteninstrumenten, dezent eingesetzten elektronischen Elementen, Bass, Triangel, Xylophon und mehr. Manche Kritiker*innen meinten: „Album des Jahres“, so weit wollen wir nicht gehen, aber alles in allem ein Album, welches 2023 in der oberen Liga mitgespielt hat.

Die amerikanische Band MGMT spielte am 10. und 11. November 2011 zwei Sets, die speziell für die Retrospektive von Maurizio Cattelan im „Solomon R. Guggenheim“-Museum in Manhattan performed wurden. Ursprünglich wurden die Aufnahmen vom 11.11.2011 schon 2022 auf Vinyl veröffentlicht, dieses Jahr im Oktober erschien ein Repress. Auf 11•11•11 ziehen MGMT alle Register Ihres Könnens. Die Schnittmenge aus neopsychedelischem Rock und Indietronic, live eingespielt, macht klar, warum die Alben von Andrew VanWyngarden und Ben Goldwasser alle einzigartig sind. Die 24-Spur-Soundboard-Aufnahme des 11•11•11-Auftritts wurden von MGMT und Dave Fridmann abgemischt. Dave Fridmann, selber Musiker (Mercury Rev), hat als Produzent schon an mehreren Studioalben von MGMT mitgewirkt, und deshalb ist 11•11•11 nicht nur einfach ein Livealbum, das gut klingt. Es ist gelungen, die einzigartige Atmosphäre des Guggenheim-Museums in der Aufnahme einzufangen. Dave Fridmann war in seiner Laufbahn aber nicht nur für MGMT tätig. Er hat schon mit Baroness, Interpol, Mogwai und Spoon gearbeitet und diese Erfahrung ist auf 11•11•11 auch herauszuhören!

Erinnert sich noch jemand das Single-Jahr 2022 mit The Wedding Present und dem dazugehörigen TERZ-Bericht im März 2023? Von 1997 bis 2004 war TWP inaktiv, und David Gedge widmete sich hauptsächlich Cinerama. Cinerama ist seine zweite Hauptband, die er 1998 mit Sally Murrell gründete. Das 2004 aufgenommene Material war eigentlich auch für das vierte Cinerama-Album bestimmt. Da er und Cinerama-Mitbegründerin Sally Murrell sich aber 2003 trennten und Murrell daraufhin Cinerama verließ, beschloss Gedge, TWP wieder zu aktivieren. Was unter anderem auch daran lag, dass sich Cinerama soundtechnisch immer mehr an TWP annäherte. Der Sound wurde wieder düsterer, lauter, klirrender, Indie-lastiger. Somit wurde Take Fountain das sechste TWP-Album und erschien 2005, damals nur auf CD. Zehn Jahre später, zum Record Store Day 2015, erschien Take Fountain dann endlich auf Vinyl. Von den 1.000 Exemplaren habe ich damals leider keines ergattern können. Take Fountain blieb somit ein ferner Traum, auch weil die Sammlerpreise bei 70 bis 100 Euro lagen. Doch nun wurde mir mein schönstes Weihnachtsgeschenk von Sounds in Venlo ermöglicht. Eine eingeschweißte Kopie lag vergessen, für den normalen Ladenpreis, in den Fächern. Wenn ich gewusst hätte, wie großartig das Album ist, hätte ich auch die 100 Euro ausgegeben.

So blieben aber 70 Euro über, zum Beispiel für die völlig durchgeknallten Twin Temple aus LA. Das „Doo Wop“-Duo, Alexandra und Zachary James, huldigt seiner Liebe zu Lucifer auf dem dritten Album God Is Dead wieder in reinstem, an die Ronettes erinnernden Sixties-Sound. Das Thema „Satanismus“ wird bis in das letzte Detail zelebriert. Originalgetreues 60s-Outfit, kombiniert mit teuflischen Accessoires, okkultem Merchandise, einem eigenen Label, Pentagrammaton Records und Songtiteln wie zum Beispiel: Burn Your Bible, Let‘s Have A Satanic Orgy, Black Magick und Be A Slut machen klar: Twin Temple meinen es blutig und ernst!
Unser Fazit: Würde John Waters eine Fortsetzung zu Hairspray namens Satanic Hairspray drehen, wäre das der Soundtrack!

Wer schon einmal das Vergnügen hatte, Fucked Up aus Toronto live zu sehen, weiß, welche Energie die Band auf der Bühne rüberbringt. Eine Live Show aus dem Jahr 2014, aufgenommen im Rivoli Club, Toronto ist jetzt auf dem bandeigenen Label Fucked Up Records veröffentlicht worden. Auf Rivoli sind alle Hits der damaligen Zeit enthalten. Die Liveaufnahme erinnert mich an die beiden Shows, die ich um den Zeitraum herum gesehen habe. Damals waren Fucked Up noch zu sechst, und drei Gitarren plus Bass erzeugten natürlich ordentlich Druck auf der Stage. Diese Dynamik, Härte und Kraft spiegelt sich auch eins zu eins auf Rivoli wieder, was es für die oder den nicht „Abgefuckten“ zum idealen Einstiegsalbum macht!

Ein Blindkauf war das Album When No Birds Sang. Die Zusammenarbeit der Shoegaze/ Alternative-Band Nothing mit den Electro-Hardcore-Punk-Grindern Full Of Hell, beide aus den USA, klang zu vielversprechend, um sie zu ignorieren. Beide Bands sind in ihren Genres wegweisend. Umso größer war natürlich die Erwartungshaltung. Die Vorfreude wurde zum Glück nicht getrübt, denn die Brutalität von Full Of Hell gepaart mit den Gitarrenwänden von Nothing bescheren uns ein grenzüberschreitendes Album der besonderen Art. Mal verträumt beschaulich, und dann einfach nur Krach. Das Leben in Pennsylvania ist kein Ponyhof und When No Birds Sang ist der Soundtrack dazu.

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns dann auch noch das Raccoone Records Paket, mit einem Gosse Demo Tape, dem Oiro – Ratatatata Album als Vorab-Tape und der No Shelter./Menschenstaub Split-LP. Gosse aus Aachen knüppeln ihren im AZ Aachen aufgenommenen HC/Punk mit viel Rotz kompromisslos runter. Female-fronted Vocals, crustiges D-Beat-Schlagzeug, 3-Akkorde-Gitarre (Eigenbezeichnung) und eine Bassistin die bereut, „Fall Of Efrafa“ nie live gesehen zu haben, das sollte als Beschreibung reichen.

Oiro präsentieren ihr neues Tape in christbaumkugelgoldener Hülle, welcher im Gegensatz zum Postpunk-, fast schon Coldwave-Sound des neuen Albums steht. Der neue Drummer Roland prägt den Oiro-Stil immer mehr. Ratatatata legt für Oiro neue Wege fest.

No Shelter. und Menschenstaub spielen sich beide auf der Split-LP gegenseitig an die Wand. HC/HM2 Metal[1] vs. Sludge HC-Crust. Das No Shelter. auf Englisch und Menschenstaub auf Deutsch shouten, fällt hier nicht wirklich auf, tut aber auch nichts zur Sache. Jeweils vier Songs, die auch in den 1990er Jahren auf Peaceville, Earache oder Nuclear Blast hätten erscheinen können. Mrs. Cave legte sich nach der Split-LP erstmal Ravi Shankar als Tinnitustherapie auf.

In diesem Sinne „Brot statt Böller“, einen guten Rutsch, Mrs. Cave und der Oberbilker.

[1]  HM2 Metal bezieht sich auf ein kleines Effekt-Gerät, welches in den 1990er Jahren von jungen und kompromisslosen „Heavy Metal“-Bands wie Dismember oder Entombed eingesetzt wurde, um einen neuen, härteren Sound zu kreieren.