TERZ 02.12 – THEATER
Das Düsseldorfer Schauspielhaus zeigt seit Januar Isaak Babels 1935 entstandenes Theaterstück "Marija" in der Inszenierung von Andrea Breth.
Die lichtdurchfluteten Zimmer, die wir im letzten Bild der Düsseldorfer Aufführung des Babel‘schen Schauspiels "Marija" sehen, symbolisieren eine helle Zukunft, und zwar für die Arbeiter_innen. Ein Arbeiter namens Safonow und dessen hochschwangere Frau Jelena, die zuvor in einer Kellerwohnung haben hausen müssen, ziehen nun in die Zimmer, in denen bislang die großbürgerliche Generalsfamilie Mukownin gewohnt hat. Dass eine neue Zeit angebrochen ist, merken die Zuschauer_innen auch daran, dass der Malermeister Andrej, der an der Renovierung der Wohnung arbeitet, mit klarer und optimistischer Stimme sagt, die Arbeiterfrau Jelena werde ihr Kind in einer Klinik gebären, die früher ein Adelspalast gewesen sei. Außerdem ist er der Ansicht, dass in der neuen Gesellschaft alle neugeborenen Kinder – Jungen und Mädchen – ein gutes Leben erwarte.
Isaak Babel, dessen Theaterstück im Übergangsjahr 1920 angesiedelt ist, lobt in diesem Schlussbild die Revolution der Bolschewiki um Lenin und Trotzki, die 1918 Schluss machten mit dem zaristischen Herrschaftssystem und das Sowjetrussland begründeten. Nicht einverstanden mit dem Lob der Revolution ist die Regisseurin Andrea Breth, die Babels Stück auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses bringt. Deshalb lässt sie den Arbeiter Safonow beim Einzug in die neue Wohnung seine hochschwangere Frau brutal niederschlagen, und der Freudentanz der Putzfrau Njuscha gerät der Regisseurin zur Karikatur. Getrübt aber wird das Schlussbild vor allem durch die Dominanz der Arbeiterfrau Jelena, die dem Geburtsschmerz lautstark und wild gestikulierend Ausdruck verleiht. Mittels dieser und ähnlicher Kunstgriffe stülpt die Regisseurin ihre nihilistische Weltanschauung über das Revolutionsstück, obwohl sie in Interviews stets ihre Werktreue betont und sich von modernen Theater-Ästhetiken abgrenzt. Nichts wissen will ihre pessimistische Philosophie vom sozialistischen Fortschritt; stattdessen ontologisiert sie die Menschheitsgeschichte zur Leidensgeschichte, indem sie über die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit als ewige Grundartung des Lebens räsoniert, so dass die Theaterkritikerin der "Rheinischen Post" angesichts der Düsseldorfer "Marija" ins Metaphysische sich verirrt und raunend verkündet: "Andrea Breth seziert die Bestie Mensch."
Isaak Babels "Marija" seziert hingegen eine konkrete historische Situation, indem er den Untergang der Großbürgerfamilie Mukownin, der seinen Grund in der bolschewistischen Revolution hat, ins Bild setzt. Da die Mukownins ihre Privilegien verlieren, verstricken sie sich in den florierenden Schwarzhandel dubioser Gestalten, infolgedessen sie allerlei Ungemach erleiden müssen. Einzig die Titelheldin Marija Mukownina, die im Stück interessanterweise nicht auftritt, stellt sich als Politkommissarin der Roten Armee in den Dienst der Revolution. Gleichwohl bleiben ihr deren Schattenseiten nicht verborgen, so dass sie in einem Brief an ihre Familie schreibt, sie träume nächtens von Vertreibung, Quälerei und Tod. Antithetisch zum Niedergang der Großbürgerfamilie Mukownin zeigt Babel den Aufstieg der Arbeiterfamilie Safonow, deren Lebensbedingungen sich grundlegend verbessern, und zwar aufgrund der bolschewistischen Revolution.
Dass die Düsseldorfer Aufführung des Babel-Schauspiels trotz Frau Breths nihilistischer Umdeutung zu einem lehrreichen Abend wird, liegt an Babels starker Dichtkunst, die sich gegen ihre antisozialistische Vereinnahmung sperrt, sowie am Können des Bühnenbildners und der Schauspieler_innen. Raimund Voigt hat die Drehbühne so eingerichtet, dass jedes der acht Bilder zu einem Kammerspiel über den Untergang einer großbürgerlichen Familie in einer revolutionären Übergangsgesellschaft wird. Im Hinblick auf die zweiundzwanzig Akteur_innen, deren Kunst Babels Figuren authentisch werden lässt, sind die (auch stimmlich) herausragenden Leistungen der Herren Peter Jecklin und Winfried Küppers zu loben. Während Jecklin den ehemaligen zaristischen General Mukownin als nachdenklichen Revolutionsverlierer gibt, agiert Küppers in der Rolle des Malermeisters Andrej als selbstbewusster Revolutionsgewinner, der auf ein gutes Leben für die Arbeitsleute hofft. Doch das düstere sechste Bild namens Polizeistation, das die Regisseurin furchtbar gewalttätig inszeniert, verweist auf die Schrecken des stalinistischen Terrors, dessen Opfer der Dichter Babel und sein Stück "Marija" wurden.
Nachbemerkung: Die RP-Rezensentin Annette Bosetti teilt uns mit, Maxim Gorki kritisiere Babels "Marija" mit folgenden Worten: "Das Stück ist kalt, seine Bedeutung vage, das Ziel des Autors nicht greifbar." Aber, so entnehmen wir dem Programmheft, Gorkis Kritik bezieht sich auf die erste Fassung des Stückes und hat dazu geführt, dass Babel sein Schauspiel überarbeitet hat. Nichts bekannt ist hingegen von einer Kritik Gorkis an Babels Neufassung. Frau Bosetti scheint also eine jener modernen Journalistinnen zu sein, die fürs Nachdenken keine Zeit haben und deswegen fix ins Schwadronieren geraten.
Franz Anger
Aufführungen im Februar gibt es jeweils um 19.30 Uhr
am 11., 26., 27. und 28. im Großen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses.