Interview über Sexarbeit in Corona-Zeiten und die Diskussion um ein Prostitutionsverbot

„Sexarbeit muss keine persönliche Erfüllung sein“

Noch Ende August haben Sexarbeiter*innen vor dem Düsseldorfer Landtag demonstriert: Sie forderten eine Aufhebung des wegen Corona verfügten Arbeitsverbots. Anfang September entschied das Oberverwaltungsgericht Münster überraschend, dass Bordelle wieder geöffnet und Sexarbeit – mit Hygieneauflagen – wieder erlaubt ist. TERZ sprach mit der Aktivistin und Sexarbeiterin Lou Violenzia über ihre Erfahrungen im letzten halben Jahr.

TERZ Warum kam es zur Demo vor dem Düsseldorfer Landtag?
Lou Violenzia Am Anfang von Corona, als der Lockdown kam, war es ganz klar und selbstverständlich, dass wir nicht arbeiten dürfen. Mit der Zeit gab es in anderen Bereichen immer mehr Lockerungen: Menschen trafen sich wieder, Restaurants durften öffnen, andere körpernahe Dienstleistungen wie bei Friseur*innen, Tätowierer*innen, nicht-medizinischen Masseur*innen waren wieder erlaubt ... Bald haben wir uns dabei gefragt, wo die Verhältnismäßigkeit bleibt.
Deswegen gab es Demos von Sexarbeiter*innen in Hamburg, Berlin, Köln und auch in Düsseldorf. In Düsseldorf hatten wir ein Bett aufgebaut, um darin zu zeigen, wie corona-tauglicher Sex funktionieren kann – ein gefundenes Fressen für die Presse! Und zwar sehr öffentlichkeitswirksam direkt vorm Landtag in Düsseldorf. Im Rahmen des Gleichbehandlungsgesetzes haben wir gefordert, wieder arbeiten gehen zu dürfen und darauf hingewiesen, dass keine ausreichenden Hilfen für die besonders prekarisiert und marginalisiert arbeitenden Sexarbeiter*innen bereitgestellt wurden.

TERZ Nach längerer Debatte ist das Arbeitsverbot für Sexarbeiter*innen am 8. September nun aufgehoben worden. Wie hast Du die Diskussion darum und die letzten Monate erlebt?
Lou Violenzia Viele Sexarbeiter*innen haben, wie Menschen in anderen Dienstleistungen auch, trotz Verbot gearbeitet. Das ist ja sowieso so eine Sache mit Restriktionen: Wenn man Dinge verbietet, nach denen aber nachgefragt wird, wird es diese Dinge trotzdem geben. Die Sexarbeit hat komplett in der Illegalität stattgefunden, weil keine sicheren Arbeitsplätze mehr da waren: die Bordelle waren geschlossen, Straßenstriche wurden kontrolliert. Zum einen waren die Sexarbeitenden nicht mehr erreichbar, zum anderen konnten aber Sexarbeitende auch Institutionen, die sie sonst konsultieren, wenn etwas passiert, zum Beispiel Gesundheitsämter, Ordnungsämter, Polizei, nicht mehr aufsuchen – weil die illegal Arbeitenden sich nicht trauten, einen Vorfall zu melden. Das waren schreckliche Zustände. Unsere Forderung war, dass realpolitische Entscheidungen getroffen werden und eine nicht von moralischen Standpunkten überlagerte, sachliche Analyse der Situation stattfindet. Nicht wie etwas sein soll, sollte Gegenstand der Diskussion sein, sondern wie die Situation ist und wie man davon ausgehend möglichst viel Sicherheit für alle Beteiligten schaffen kann.

TERZ Du hast die moralische Ebene angesprochen. Hattet Ihr den Eindruck, dass moralische Ansichten hinter der vergleichsweise sehr späten Erlaubnis für Sexarbeit stehen?
Lou Violenzia Ich glaube, die Begründungen für das späte Zulassen der Sexarbeit waren vielfältig. Aber die Position der Prostitutionsgegner*innen in dieser Debatte war auf jeden Fall sehr früh sehr deutlich. Da hat zum Beispiel die SPD-Politikerin und Gewerkschafterin Leni Breymeier getwittert: Cool, jetzt kann man ja schon mal das Prostitutionsverbot üben! Das war menschenverachtend, obwohl sie sich ja immer als eine große Menschen-Retterin versteht. Ähnlich haben das coronabedingte Arbeitsverbot glaube ich viele zum Anlass genommen zu sagen: Hey, es ist doch gut, dass die armen Frauen jetzt da nicht arbeiten müssen! Das ist natürlich eine sehr oberflächliche Perspektive. Ja – die Frauen durften nicht mehr arbeiten, ihnen wurde aber auch keine Alternative angeboten! Keine*r, ohne eigenes Kapital in Form von Geld, kann es sich leisten, nicht zu arbeiten. Menschen, die in Deutschland keine Sozialleistungen bekommen, hatten keine Wahl. Diese Punkte wurden in den Debatten nicht diskutiert und kamen bei den Prostitutionsgegner*innen nicht vor. Ob man Sexarbeit gut findet oder nicht, ist jedem/ jeder selbst überlassen. Aber das sollte nicht reinspielen in die Diskussion, ob man sie erlaubt oder nicht. Die persönlich-moralische Ansicht und die Frage, ob Sexarbeit erlaubt sein sollte oder nicht, sind zwei ganz unterschiedliche Paar Schuhe. Mir ist aber aufgefallen, dass die Sexualmoral von Menschen, die sich an der Debatte beteiligt haben, vordergründig war. Es wurde nicht sachlich und evidenzbasiert, nicht den Umständen entsprechend diskutiert. Das hat mich sehr enttäuscht! Von Leuten, wie beispielsweise Politiker*innen, die viel Geld für ihren Job bekommen, sollte man erwarten, dass sie sich gute Informationen beschaffen und darauf basierend politische Entscheidungen treffen, die schließlich unfassbar viele Menschen betreffen.

TERZ Bei den Gegner*innen ist mir aufgefallen, dass viel vermengt wurde. Sexarbeit wurde oft verbunden mit illegal nach Deutschland verbrachten Frauen, vornehmlich aus Osteuropa. Es wurde vermischt mit einer Menschenhandelsdiskussion und dem Begriff „Zwangsprostitution“. So wurde die Ansicht untermauert, diese Frauen durch ein Verbot der Prostitution schützen oder retten zu können.
Lou Violenzia Die Gegner*innen werfen auch immer mit vielen Zahlen um sich. Wenn wir genauer hinsehen, wissen wir, dass es keine evidenzbasierten Studien gibt, die zu einem exakten Ergebnis darüber kommen können, wie viele Sexarbeitende es in Deutschland gibt, wie viele davon legalisiert, also angemeldet arbeiten, wie viele einen Migrationshintergrund haben, wie viele in Zwangsverhältnissen arbeiten usw. Es gibt darüber keine verlässlichen Zahlen, aber das wird in der Öffentlichkeit suggeriert.
Sexarbeit mit Menschenhandel gleichzusetzen, ist völlig fatal, weil es alle Sexarbeitenden stigmatisiert. Menschen, die in stigmatisierten Berufen arbeiten, sind einem höherem Gewalt-Risiko ausgesetzt. Außerdem ist Menschenhandel ja bereits verboten. Menschenhandel kann auch in vielen anderen Berufen stattfinden, doch dort sehe ich diese Verbotsdebatte nicht und auch nicht die Forderung, dass man etwa in der Altenpflege oder bei Putzfirmen Leute retten muss. Die Lösungsvorschläge von dieser Seite sind nicht nachhaltig. Wenn wir Sexarbeit komplett verbieten, wird sie trotzdem stattfinden, wie auch Menschenhandel und Zwangsprostitution trotz Verbot stattfinden.
Es ist schwierig, alles in einen Topf zu werfen und eine Lösung für alle Probleme haben zu wollen. Bei der Armutsprostitution sehe ich einen Handlungsbedarf auf einer politischen Ebene und den ganzen Arbeitsmarkt betreffend. In anderen Arbeitsfeldern verrichten Menschen ebenfalls aus einer Geldnot heraus Arbeiten, da sie sonst auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben. Da ist Sexarbeit oft eine Option, weil auch im Niedriglohnbereich die Preise besser sind als beim Putzen oder der Arbeit am Fließband. Innerhalb dieses kapitalistischen Systems und innerhalb dieser wenigen Auswahlmöglichkeiten, die mariginalisierte Menschen haben, bleibt es immer noch eine selbstbestimmte Entscheidung zu sagen: Okay, dann nehme ich Sexarbeit. Da sollte dann eher der Mangel an Alternativen kritisiert werden, der ja an sich mit Sexarbeit gar nichts zu tun hat, sondern mit dem System, in dem wir leben. In diese Richtung gehend höre ich niemals Kritik von den Gegner*innen.

TERZ Es wurde – hatte ich den Eindruck – in der Diskussion nicht darauf eingegangen, dass es einen großen Teil von Menschen gibt, die den Job selbstbestimmt ausüben. Und dass, obwohl beispielsweise in Radiointerviews auch Vertreter*innen des „Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen“ zu Wort kamen, die den Punkt stark gemacht haben, dass viele Menschen ihren Beruf freiwillig und oft gerne machen. Oder, dass es Leute gibt, die den Beruf wie andere Menschen jeden anderen Beruf ausüben: nicht wirklich gerne, aber man muss halt arbeiten ...
Lou Violenzia Es stimmt, dass es einige gibt, die den Job lieben und freiwillig machen. Aber gerade im Berufsverband sind viele privilegierte Menschen, die sehr viel Geld jede Stunde bekommen, und das ist schön! Aber das sollte keine Legitimation für eine Branche sein. Es ist eine komische Sache, die persönliche Erfüllung als Legitimation von Arbeitsverhältnissen zu nehmen – so wird in keinem anderen Arbeitsbereich argumentiert. Solange ich Arbeit freiwillig mache, muss ich doch keine persönliche Erfüllung darin finden. Ich persönlich bin auch nicht jedes Mal total glücklich, wenn ich einen Kunden besuche. Aber das ist ja auch gar nicht schlimm. Ich bin auch vorher nicht total glücklich gewesen, wenn ich zu meiner Schicht in der Kneipe gegangen bin. Ich mache das in erster Linie, um Geld zu verdienen und um meine Existenz zu sichern, so wie fast alle Menschen, die arbeiten gehen.

TERZ Ich glaube, das ist auch immer ein strategisches Argument, um Gegner*innen, die sagen, dass keine Frau freiwillig Sexarbeiterin ist und die Frauen befreit werden müssen, den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Lou Violenzia Ich finde auch wichtig, dass solche Stimmen laut werden und das Menschen mitbekommen, wie vielseitig dieses Feld ist, was es da alles für Jobs gibt. Aber dass viele den Job gern machen, sollte nicht das Argument sein, warum Menschen sagen, dass es in Ordnung ist, dass es Prostitution gibt. Schließlich gibt es trotzdem immer noch andere, die die Sexarbeit nicht supergern oder sogar ungern machen, aber es lieber machen, als etwas anderes schlecht bezahltes.

TERZ Zur Phase, in der ihr euch dafür eingesetzt habt, dass Sexarbeit in Zeiten von Corona wieder erlaubt ist: gab es da auch positive Überraschungen? Zum Beispiel Unterstützung von Seiten, von denen ihr es nicht erwartet habt?
Lou Violenzia Zu Anfang der Krise haben wir einen Notfallfonds gegründet und um Spenden gebeten. Da ist richtig viel Kohle zusammengekommen. Davon konnten wir über 400 Sexarbeitenden durch Geldspenden helfen. Wir haben uns richtig gefreut, dass total viele Leute auch außerhalb unserer Bubble solidarisch waren. Auf der anderen Seite ist es natürlich ein Beweis dafür, wie sehr es der Staat verkackt hat, genau diesen Menschen zu helfen.

TERZ Nun, wo Sexarbeit wieder erlaubt ist: funktioniert alles wie vorher, nur mit Hygienekonzept?
Lou Violenzia Ich glaube nicht. Ich kann nur von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen. Seit das Verbot gekippt wurde, habe ich weniger Anfragen als vorher. Ich denke schon, dass einige Kund*innen keine Lust haben, die Dienstleistung mit Hygienekonzept in Anspruch zu nehmen, sprich: Sex mit Maske zu haben.

TERZ Wie ist Deine Einschätzung das generelle Verbot von Sexarbeit betreffend, das in den letzten Monaten wieder oft diskutiert wurde?
Lou Violenzia Das Verbot ist nicht vom Tisch. Die Gegner*innen sind weiterhin aktiv. Jetzt Ende September gibt es zum Beispiel eine große Abolitionist*innen-Demo in Bonn.

TERZ Wie siehst Du das Thema verortet in linken Milieus oder queerfeministischen Debatten?
Lou Violenzia Ich glaube, es ist auch da ein sehr kritisches Thema, ein Thema, das sehr spaltet. Ich erfahre viel Solidarität. Ich habe aber auch schon linke Kreise kennengelernt, die absolut für das Sexkaufverbot sind. Das ist aus meiner Sicht eigentlich gar nicht mit einer linken oder feministischen Anschauung vereinbar, da es die Lebensrealitäten von ziemlich vielen Menschen außer Acht lässt. Außerdem ist es dieser typische Saviorism-Komplex – sie wollen Menschen aus der Armutsprostitution retten. Ich möchte auch nicht, dass Menschen in Armut leben, aber das Problem ist nicht die Armutsprostitution, sondern die Armut. Und dafür braucht es einen anderen Ansatz, als Prostitution zu verbieten

TERZ Ich danke Dir sehr für das Interview.