Wer Verantwortung trägt

für die Räumung des Hambacher Forsts im September 2018
für den Tod von Steffen Meyn

Am 11. September hat Steffen Meyn Geburtstag. 2021 wäre er 30 Jahre alt geworden. Vor drei Jahren, am 19. September 2018, aber stürzte er im Hambacher Forst aus zwanzig Metern Höhe. Als der Wald geräumt wurde. Steffen Meyn starb.

Ab dem 13. September 2018 ließ – namentlich – das NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen die Baumhäuser, Hütten, Zelte, Tripods, Plattformen und Traversen im Hambacher Forst gewaltsam zerstören. Über Wochen gingen Hundertschaften der aus dem Bundesgebiet und aus NRW zusammengezogenen Polizei und ihre Spezialkräfte gegen die Bewohner*innen des Hambacher Forsts vor, eskalierend, äußerst brutal, rücksichtslos und unter Einsatz massiver körperlicher und psychischer Gewalt.

In Wut, Trauer, Erinnerung

Von den Ausmaßen und Gewaltdimensionen der zuerst von der Energiewirtschaft beantragten, dann staatlich angeordneten und von den Polizeibehörden schließlich durchgeführten Räumung berichtet heute selbst die bürgerliche Presse. In der ZEIT lesen wir etwa, dass in den Nächten der Räumung die Polizei Kettensägen-Geräusche abgespielt und mit Scheinwerfern den Wald ausgeleuchtet habe. Maßnahmen der Folter, ließe sich sagen. Die Wochenzeitung bezieht sich mit dieser Schilderung auf den Bericht von Elisabeth Meyn. Sie erinnerte sich am 19.9. gegenüber ZEIT Online an den Abend vor genau drei Jahren. Gegen 19 Uhr habe eine Freundin, die zuvor im Hambacher Forst gewesen sei, bei ihr zuhause geklingelt. Sie überbrachte ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes Steffen. Am Nachmittag des 19. September 2018 stürzte er von einer Traverse zu einem Baumhaus, aus rund zwanzig Metern Höhe. In der Nähe, so berichteten Zeug*innen einen Tag später in der taz, seien zur gleichen Zeit die Räumungsmaßnahmen im Gange gewesen. Doch bereits unmittelbar nach dem tödlichen Sturz von Steffen Meyn will die zuständige Staatsanwaltschaft Fremdverschulden ausgeschlossen haben.

Steffen Meyn war Dokumentarfilmer. Er arbeitete im Wald an seiner Abschlussarbeit, einem Film, den er an der Kunsthochschule für Medien KHM Köln hätte einreichen wollen. Steffen Meyns Material aus dem Hambacher Forst, darunter kurze, noch von ihm selbst edierte Filmbeiträge, fasst die Hochschule nun zu einem Archiv zusammen. Sein Kunstprojekt wird fortgesetzt. Kommiliton*innen und Freund*innen arbeiten derzeit an einem Film, der auf Steffens Videomaterial basiert, lesen wir auf der Homepage der KHM [1].

Steffen Meyns Kurzfilm „Eine Führung durch den Wald“ war am 22. September 2021 in der Reihe „Utopien – wie wir leben wollen“ in den Kalker Lichtspielen auf der Kino-Leinwand zu sehen. Freund*innen und Familie nahmen an diesem Abend ebenfalls teil. Der Kölner Stadtanzeiger berichtete am Tag nach dem Kino-Abend darüber, dass Steffen Meyns Mutter sich mit „Vorwürfen gegen das Land“ zu Wort gemeldet habe.

Das Handeln von Politikern

Erst wenige Tage zuvor hatte derselbe Kölner Stadtanzeiger den Abdruck einer Traueranzeige von Steffen Meyns Eltern – zum dritten Jahresgedenken – nur unter der Auflage ausgeführt, dass der Text verändert würde.

Mit einem Foto ihres Sohnes und mit sehr persönlichen Zeilen bringen die Eltern in der Anzeige „3 Jahre – ohne DICH“ ihre Trauer, ihre Wut und auch ihren Mut, an Steffen zu erinnern, zum Ausdruck. Doch sie wollen auch klare Worte sprechen. Der Tod ihres Sohnes steht für sie im Zusammenhang mit Verantwortungslosigkeit und Menschenverachtung, die das Handeln der politischen Entscheidungsträger*innen getrieben habe. Sie wollen es genau sagen: mit dem Handeln der Politiker Armin Laschet und Herbert Reul [2].

Am 18.9.2021 erschien die Anzeige im Kölner Stadtanzeiger, jedoch ohne diese beiden Namen. Die Zeitung hatte sich ausbedungen, den Namen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und den des NRW-Innenministers zu einem „Handeln von Politikern“ zusammenzuziehen.

Steffen Meyns Eltern greifen auf und wollen sichtbar machen, was kurz vor der Bundestagswahl und mitten in der Endphase des Wahlkampfes für den CDU-Bundeskanzlerkandidaten Armin Laschet hochbrisant – aber rasch aus der Medienberichterstattung wieder verschwunden ist: Das Verwaltungsgericht Köln hat über die Klage eines ehemaligen Bewohners der Baumhäuser im Hambacher Forst entschieden, der die Rechtmäßigkeit der Räumungsmaßnahmen vor Gericht geklärt wissen wollte. In seiner Pressmitteilung vom 8. September 2021 teilt das Verwaltungsgericht mit, dass das seinerzeit von Bau- und Heimatministerin Scharrenbach in ihrer Anweisung an die zuständige Stadt Kerpen angegebene Argument, die Räumung sei aus Brandschutzgründen unverzüglich erforderlich, keinen Bestand vor einer rechtlichen Prüfung habe. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig.

„Brandschutz nur vorgeschoben: Räumung und Abriss von Baumhäusern im Hambacher Forst im Jahr 2018 rechtswidrig“, heißt ist in der Überschrift der Pressemitteilung des Gerichts [3]. Die Räumungsmaßnahme leide mitsamt ihrer Begründung unter verschiedenen rechtlichen Mängeln, führt das Verwaltungsgericht zur Einordnung seiner Entscheidung aus. Vor allem sei „aus der Weisung des Ministeriums erkennbar, dass die Räumungsaktion letztlich der Entfernung der Braunkohlegegner aus dem Hambacher Forst gedient habe“, in erster Linie – nicht jedoch dem Brandschutz. Damit habe die Räumung nicht dem Zweck entsprochen, für den sich die rechtliche Begründung des Baurechts bedient habe. Das Argument, mit der Räumung baurechtliche Regelungen zum Brandschutz durchsetzen zu wollen sei „insofern nur vorgeschoben“.

Nur vorgeschoben

Wo etwas vorgeschoben ist, gibt es immer auch Menschen, Personen, Akteur*innen, Verantwortliche, die dieses Vorschieben etwa ausgedacht, vielleicht strategisch erwogen oder in einer Verkettung von Entwicklungen (mit oder ohne gezielten Vorsatz und im besten Fall den kausalen Wirkzusammenhang vollkommen unterschätzend) ausgeführt – mindestens aber nicht gestoppt haben. Die Eltern von Steffen Meyn benennen diese Menschen, die für sie hier entscheidend waren.

Im Innenausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen versuchte Innenminister Herbert Reul in seinem Bericht an die Landesregierung am 12.9.2019 darzulegen, wie die Entscheidung zur Räumung des Hambacher Forsts – rein rechtlich – entstanden sei. Um Bericht gebeten hatten Landtagsabgeordnete der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Sie wollten wissen, was die „wirklichen Hintergründe für den Polizeieinsatz zur Räumung des Hambacher Forstes im September 2018“ gewesen seien. Auf 14 Seiten zeichnet Reuls Bericht nach, dass sich die Landesregierung durch die Münsteraner Rechtsanwaltskanzlei „Baumeister Rechtsanwälte Partnerschaft“ – Expert*innen in den Bereichen des Bau- und des Umweltrechts – gutachterlich darin hatte beraten lassen, welche rechtlichen Begründungszusammenhänge hinreichend für eine Durchsetzung der Räumungs-Idee tauglich seien: Wer genau mit welcher rechtlichen Grundlage die Anweisung geben könne, ob die Polizei die Umsetzung auszuführen habe, welche Rolle die Kommunen, deren Ordnungsbehörden vor Ort zuständig sein könnten, spielen sollten oder müssten [4]. Dem Auftrag an die externen Jurist*innen vorausgegangenen war der Antrag des Konzerns RWE vom 2. Juli 2018 – an das Polizeipräsidium Aachen, an die Stadt Kerpen und an die Gemeinde Merzenich. Die kommunalen Adressat*innen lehnten jedoch den Antrag von RWE unmittelbar ab. Wo der Energiemulti seine Rodungs-Saison im Herbst 2018 durch ordnungsbehördliche Vorbereitungen ‚seines‘ Kohleabbaugeländes umgesetzt wissen wollte, verwiesen die Kommunen darauf, dass dafür nicht sie, wohl aber die Polizei zuständig sei. Damit hätte der Ball wieder beim Innenminister gelegen – hätte Herbert Reul ‚seine‘ Polizist*innen daraufhin in den Wald geschickt, wäre der Gedanke doch allzu naheliegend gewesen, dass RWE nur das staatliche Gewaltmonopol anzurufen braucht, um seine Konzerninteressen durchzusetzen. Nach der gutachterlichen Bewertung der Sachlage war es am Ende dann Ministerin Scharrenbach, die „Brandschutzgründe“ nannte – und die Stadt Kerpen zur Umsetzung des Polizeieinsatzes anwies. Reuls Polizei erledigte dann ab dem 13. September 2018 das Praktische. Armin Laschet höchstpersönlich äußerte später aus Anlass eines zufällig und mehrfach video-dokumentierten Bürger*innen-Termins: „Natürlich brauchte ich einen Vorwand, ich wollte den Wald räumen, ich wollte den Wald räumen.“ [5]

Wer Verantwortung trägt? Ganz oben sicher: Armin Laschet.

Wir aber vergessen nicht!

Keinen Moment des menschenverachtenden, verantwortungslosen Handelns.
Mit ihrem Leben im Wald – mit den Baumhäusern als Orten des Widerstands und der Begegnung – geben die Bewohner*innen im lebendigen Protest gegen den Braunkohletagebau und gegen die aktuelle Energiepolitik der Landes- und Bundesregierung einer Utopie des „Wie wir leben wollen“ Raum. Der Dokumentarfilmer Steffen Meyn war 2017/2018 im Hambacher Forst, um diese Kraft mit der Kamera festzuhalten. Seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln Anfang September 2021 wissen wir: Die Räumung des Hambacher Forsts war rechtswidrig. Ohne Konzerninteressen und deren politische Unterstützung durch die NRW-Landesregierung hätte Steffen Meyn seinen Film fertiggestellt.

[1]  https://khm.de/inerinnerung_meyn/
[2]  https://hambacherforst.org/blog/2021/09/18/jahresgedenken3-steffen-meyn/
[3]  https://vg-koeln.nrw.de/behoerde/presse/Pressemitteilungen/25_2021_09_08/index.php. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
[4]  https://khm.de/inerinnerung_meyn/
[5]  Zeit Online vom 19.09.2021 (https://zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-09/hambacher-forst-todesfall-opferfamilie-steffen-meyn-armin-laschet; 26.09.2021)