US-Geheimdokumente in der Kunstsammlung NRW publiziert

Als 1990 in Venedig ein Journalist am Rande der Biennale von Jenny Holzer wissen wollte, was sie von Duchamps These vom Tod der Kunst halte, entgegnete sie: „I’m not talking about the death of art, but the death of people.“

Wie lässt sich Unaussprechliches darstellen? Picasso hat 1937 mit „Guernica“ den Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung in ein monumentales Bild gebannt. Doch als er 1944 mit „Das Beinhaus“ das Grauen von Auschwitz in ein Bild fassen wollte, scheiterte er. Jenny Holzer präsentiert aktuell im K21 eine Installation, die thematisch an „Das Beinhaus“ anknüpft. Es ist ein Haufen aufgeschichteter Knochen. Menschenknochen seien etwas, auf das sie normalerweise nicht zurückgreife, erklärt die Wortkünstlerin. „But sometimes language doesn’t caught it. Sometimes there must be something material and utterly sad.“ Die Knochen sind aus medizinischen Sammlungen, wie Holzer unterstreicht. Nahezu jeder Biologiesaal eines Gymnasiums ist in Besitz eines menschlichen Skeletts: Die Knochen sind wieder zu einer aufrecht stehenden menschlichen Figur zusammengefügt. Doch Holzer präsentiert die Knochen auf einem Haufen, wie weggeworfen. Das verstört. Einige Knochen sind mit Silberbändern versehen. Die eingravierten Texte beschreiben Vergewaltigungstaten aus den Perspektiven der Täter, Opfer und eines*r Beobachter*in. Ursprünglich schuf Holzer diese Installation als Mahnmal für die Massaker im Bosnienkrieg. Im K21 präsentiert sie diese nun ohne diesen Bezug. „Die Installation für die Bel Etage hat mit Körperverletzungen und Ermordungen vom Zweiten Weltkrieg bis zur gegenwärtigen Invasion in der Ukraine zu tun. Sie ist als Mahnung, Warnung und Protest gedacht.“

An den Wänden ringsum in jenem Raum großformatige, mit Blattgold und Silber belegte Bildträger, auf die in Siebdrucktechnik vergrößerte US-Geheimdokumente aus dem Irakkrieg (Krieg der „Koalition der Willigen“, 2003) aufgebracht sind, Geheimdokumente, welche die US-Regierung aufgrund des Freedom of Information Act (FOIA) hatte freigeben müssen. Die Veröffentlichung nach diesem Gesetz war vom National Security Archive der George Washington University beantragt worden. Zu einer der Folien heißt es auf dem digital guide der Kunstsammlungs-Homepage (die Exponate werden dort mit Texten jeweils auf deutsch und englisch vorgestellt): „Es handelt sich um eine Folie aus einer Präsentation des Zentralkommandos der Vereinigten Staaten für den damaligen Präsidenten George W. Bush und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld aus dem Jahr 2002, in der die Invasion des Irak durch US-Streitkräfte unter dem Codenamen POLO STEP vorgestellt wird.“ Die Folien zeigen den „Fünf-Phasen-Plan zur Invasion des Irak, von der Planung über die vollständige Zerstörung des irakischen Regimes bis hin zum Truppenabzug.“

Im „titel-thesen-temperamente“ (ttt)-Beitrag vom 19. März 2023 (im Netz abrufbar) weist Holzer darauf hin, dass auf dieser Folie die Beschlagnahme von Öl als vorrangiges Kriegsziel ausgewiesen wird. Daneben sind im K21 Anklagen von Misshandelten gegen das US-Militär in grau und türkis vergrößert auf mit Blattsilber belegte Bildträger aufgebracht. Der ästhetische Reiz steht hier im krassen Widerspruch zum Inhalt. Vor der Veröffentlichung waren zahlreiche Stellen von den Behörden geschwärzt worden. Diese Serie nennt Holzer „War Paintings“. Eine der „War Paintings“ zeigt eine „wish list“ von „alternativen Verhörmethoden“.

Einige dieser Dokumente hatte Holzer vor einigen Jahren auf die Fassade der Bibliothek der George Washington University projiziert, in der sich das National Security Archive befindet. So wie hier in den Jahren nach 1933 viele die Berichte über die KZs schlicht für Fake News hielten, hatten zahlreiche Studierende in Washington, so versicherte Holzer in einer Podiumsdiskussion, diese Dokumente nicht für echt gehalten – dass das US-Militär in Guantanamo und in Abu Ghraib folterte, wollten sie einfach nicht glauben.

Das Thema „Krieg“ beschäftigt die Künstlerin die vergangenen Jahrzehnte kontinuierlich. Die Neue Nationalgalerie in Berlin hatte 2013 unter dem Titel „Kunst in Zeiten des Mauerfalls“ mehr als 100 Werke aus den Jahren 1968 bis 2000 aus eigenem Bestand präsentiert.

Deutschlandfunk Kultur sendete am 9. November 2013 einen Bericht und kommentierte: „Nach 1989 blicken die Künstler gleichermaßen kritisch auf eine Gesellschaft, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs mitten im Frieden militarisiert. Jenny Holzer warnt auf einem winzigen Schild ‚The Beginning of the War will be Secret‘“.

Tote in Abu Ghraib und der Ukrainekrieg

Im ersten der Räume auf der „Bel Etage“ des K21 befinden sich – ebenfalls auf Riesenformat vergrößert – Finger- und Handabdrücke von Häftlingen aus Abu Ghraib, die Anklage gegen das US-Militär erhoben haben. Die Abdrücke von Überlebenden sind unkenntlich gemacht, die von Toten sind ungeschwärzt zu sehen. In den Untersuchungsberichten des US-Militärs (Kurzzusammenfassungen befinden sich ebenfalls auf der K21-Homepage) wird ausdrücklich vermerkt, dass die Misshandelten nicht an der Folter, sondern eines natürlichen Todes gestorben seien. Stets wird als Todesursache „Arteriosklerose“ verbunden mit „Herz-Kreislauf-Erkrankung“ angegeben. In jenem ersten Raum ist eine digitale, schnell durchlaufende Leuchtschrift senkrecht angebracht, die Bezug nimmt auf den Ukrainekrieg. Sie nutze „the electronic signs“ (LED-Leuchtschrift), weil die Wörter gleichsam wie Kondensstreifen nur kurz erscheinen, hatte Holzer einmal geäußert. „They were disembodied that you maybe had some kind of equivalent to the spirit: you had the body and then you had the spirit.“ So lesen wir zum Beispiel Auszüge von Telefongesprächen mit Menschen in Kiew, in denen von Explosionen berichtet wird, von Todesopfern in einem zerstörten Nachbarhaus. Nachprüfen lässt sich dies nicht. Verbunden mit den erst Jahre später freigegebenen Geheimdokumenten der US-Regierung zum Irakkrieg und den Folterungen in Abu Ghraib und Guantanamo wird hier die Frage aufgeworfen, was an den Berichten aus und über die Ukraine wahr ist, und was subjektive Wahrnehmung, persönliches Urteil oder nur Gerücht. So wie bei dem vor zwei Jahrzehnten begonnenen Angriffskrieg gegen den Irak werden wir erst Jahre später durch die dann freigegebenen Geheimdienstakten die wahren Hintergründe und Zusammenhänge erfahren.

Holzers subversive Textbotschaften

Sie liebe es, anonym von der Seitenlinie aus zu beobachten, wie Passanten reagieren, gesteht Holzer in dem ttt-Beitrag. Das Ausstellungsplakat zeigt denn auch nicht sie, sondern „Lady Pink“, eine seit 1979 in New York aktive Graffitikünstlerin, die Holzer eingeladen hat, im Untergeschoss des K21 zu großen Graffiti umgestaltete Dokumentarfotos aus den von USA und CIA unterstützten Bürgerkriegen in El Salvador und Nicaragua zu präsentieren. Auf dem Ausstellungsplakat trägt „Pink“ ein T-Shirt mit der Aufschrift „ABUSE OF POWER COMES AS NO SURPRISE“, einer von Holzers „Truisms“ aus den 1980er Jahren, der von der #Me Too-Bewegung aufgegriffen wurde. Holzer weigert sich oft, ihre Werke eingehender zu kommentieren. Die Ausstellung in der Kunstsammlung NRW musste zweimal wegen Corona verschoben werden. Und nun müssen wir uns fragen: Ist es wirklich nur Zufall, dass in der Ausstellung der Angriffskrieg gegen den Irak eine so zentrale Rolle spielt? Ausstellungseröffnung war just neun Tage vor jenem Jahrestag, an dem sich der Beginn der Bombardierung Bagdads zum zwanzigsten Mal jährte. Holzer lässt uns hier mit unseren Assoziationen allein. Wir müssen selbst mit unseren Gedanken im Kopf klarkommen. Auf den elektronischen Werbetafeln der U-Bahnstation „Heinrich-Heine-Allee“ tauchen an manchen Tagen zwischen der Werbung für Sekunden „Truisms“ von Jenny Holzer auf. Wurde die U-Bahnstation „Heinrich-Heine-Allee“ nur gewählt, weil sie in der Nähe des K20, dem zweiten Haus der Kunstsammlung NRW, liegt? Oder will Holzer damit bewusst Bezug nehmen auf den Dichter? Der war für knappen Textbotschaften berühmt wie z.B.: „Wo man Bücher verbrennt, da verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Claas Morgenroth hat 2015 auf die subversive Strategie des Dichters hingewiesen: „Heine war gezwungen, mit den Mitteln der Ironie, des semantischen Versteckspiels, der als Kompromiss verkleideten Selbstzensur, den Wortschatz der Herrschenden zu übernehmen, und zwar so“, dass sich die Übernahme „gegen seine bisherigen Benutzer“ wendet. Die gleiche Strategie finden wir auch bei Jenny Holzer. Schlagzeilen machte sie, als sie 1982 an der großen elektronischen LED-Werbetafel am New Yorker Times Square Textbotschaften unterbrachte, die dort zwischen der bunten Reklame für Sekunden aufflackerten. Realisiert werden konnte dies durch eine finanzielle Förderung aus dem Topf des Public Arts Fund Programs. Es war in der Tat ein Ereignis. Als „Ereignis“ hat Michel Foucault „die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses“ definiert, was konkret heißt: „der Verlust der Macht; die Übernahme eines Wortschatzes, der nun gegen seine bisherigen Benutzer gewendet wird; die Schwächung einer Herrschaft, die sich selbst vergiftet, während eine andere noch verdeckt auf den Plan tritt.“ Holzer tut dies in subversiver Absicht. 1982 flackerte unter anderem kurz „PROTECT ME FROM MYSELF“ am Times Square auf – „Beschütze mich vor mir selbst.“ Längst wissen wir, dass unsere Wünsche und Bedürfnisse durch die Werbung, eben auch durch solche bunt leuchtenden Billboard-Werbebotschaften manipuliert werden. Es sind Messages, die in unser Unterbewusstsein eindringen. Auf einer solchen LED-Reklametafel bzw. von einer solchen LED-Werbetafel zu verlangen: „PROTECT ME FROM MYSELF“, heißt ja paradoxerweise: „Beschütze mich vor Deinem Einfluss.“ Derartige „Truisms“ – auf deutsch ließe sich dies vielleicht mit „Binsenwahrheiten“ oder „Merksprüche“ übersetzen – gibt es auch bei uns. Einer der prägnantesten ist von Wiglaf Droste: „Menschenrechte sind ein gut klingender Vorwand für wirtschaftliche Interessen.“

Thomas Giese

Moritz-Ausstellung verlängert
„Sklavenhändler, hast du Arbeit für mich?/ Sklavenhändler, ich tu alles für dich.“ Rio setzt noch einen drauf: „Und wenn ich sieben fuffzich verdiene, geb ich dir drei fuffzich ab./ Ich brauch nur was zu essen und vielleicht ein bisschen Schnaps.“ Die wenigsten wissen, dass „Reiser“ nur ein Pseudonym war. Rio hatte den Namen dem Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz entlehnt. Was es mit diesem Karl Philipp Moritz (1756-1793) auf sich hat, zeigt derzeit eine Ausstellung im Goethemuseum (siehe Rezension in TERZ 03.23). Die Ausstellung ist bis zum 7. Juni 2023 verlängert.