Vom Putsch zum Aufstand – 50 Jahre chilenische Geschichte

Im Herbst diesen Jahres jähren sich zwei bedeutende Ereignisse der chilenischen Geschichte. Im Schatten des 50. Jahrestags des Putsches liegt die Erinnerung an den sozialen Aufstand vor vier Jahren. Grund genug darüber nachzudenken, was diese beiden Ereignisse verbindet.

Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär mit seinem Oberbefehlshaber General Augusto Pinochet an der Spitze gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende. Nach der Bombardierung und der Erstürmung des Präsidentenpalastes nahm sich Allende das Leben. Der Putsch beendete nicht nur die drei Jahre andauernde linke Regierungszeit, sondern auch eine umfassende gesellschaftliche Mobilisierung über die linken Parteien hinaus, an den Universitäten und Schulen, in Betrieben und bei Landbesetzungen. Während die kommunistische und sozialistische Partei Allende unterstützten, kritisierte der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, dt.: Bewegung der Revolutionären Linken) die Regierung von links und forderte einen radikaleren Wandel. Dabei setzte er nicht nur auf die Arbeiterklasse, sondern insbesondere auf das Subproletariat in den Vorstädten, die verarmte Landbevölkerung und die sogenannten Randgruppen. Als ab 1972 die chilenische Rechte mit Sabotageaktionen, Boykotts und Streiks die Lage zu destabilisieren versuchte und ein Putsch sich bereits abzeichnete, drängte der MIR auf die Organisierung und Bewaffnung von Widerstandskomitees, was Allende aus Angst vor einem Bürgerkrieg ablehnte. Der Versuch Allendes, stattdessen das Militär einzubinden, scheiterte dramatisch mit dem Verrat der Militärführung. In der Folge wurden zehntausende Linke unterschiedlicher Schattierungen ermordet, gefoltert, verhaftet oder ins Exil gezwungen. Während in den Jahren nach dem Putsch Militär und Polizei jegliche Oppositionsaktivität brutal unterdrückten, kam es wirtschaftspolitisch zu einem drastischen Umbruch, der die Reformen der Linksregierung nicht nur zurücknehmen wollte, sondern eine gesellschaftliche Modernisierung anstrebte. Auf beiden Feldern spielten die USA eine entscheidende Rolle. Parallel zu der geheimdienstlichen und militärischen Einflussnahme der USA gab es eine umfangreiche Kooperation mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der University of Chicago, wo eine als „Chicago Boys“ bekannt gewordene Gruppe von Chilen*innen (mit Ausnahme von María Teresa Infante Barros, der späteren Arbeitsministerin unter Pinochet, tatsächlich nur Männer) bei Milton Friedman studiert hatte. Geprägt von diesem Einfluss machten die „Chicago Boys“ Chile in den 1970er Jahren zum Labor des Neoliberalismus. Der Staat sorgte für die Unterdrückung von Gewerkschaften und Arbeitskämpfen und ermöglichte den zynischen Ökonomen ein von Konflikten bereinigtes Feld, auf dem sie das vermeintlich freie Spiel der Marktkräfte ausprobieren konnten.

Bis heute hat sich der Neoliberalismus in Chile festgesetzt. Das liegt nicht zuletzt an der Verfassung von 1980, die unter Pinochet entstanden ist. Neben der dem Staatsumbau in Richtung Autokratie regelte sie auch die Privatisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, insbesondere von Bildung und dem Zugang zu Wasser, Strom, Infrastruktur und natürlichen Ressourcen, u.a. der von Allende zuvor verstaatlichten Kupferminen. Ab 1988 kam es zur sogenannten Transicion, dem Übergang von der Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie. Diese brachte zwar in einigen Bereichen eine Abkehr von der absoluten Autoritarisierung, doch insbesondere Militär (bis 1998 mit Pinochet an der Spitze) und Polizei blieben davon ausgenommen, zumal die Aufarbeitung der Verbrechen in der Diktatur marginal blieb. Auch die neoliberalen Prinzipien der Verfassung blieben bestehen, trotz aller politischer Proteste und Anläufen zu Reformen der Konstitution in den folgenden Jahren.

30 Pesos – 30 Jahre

Wie aus dem Nichts explodierte im Oktober 2019 die Lage, als die Ticketpreise für die Metro in der Provinz Santiago um 30 Pesos (umgerechnet etwa 4 Cent) erhöht wurden. Zwar erscheint die Fahrpreiserhöhung nicht sehr hoch, aber die Metro ist das Hauptverkehrsmittel in Santiago und sie wurde als Teil von steigenden Lebenshaltungskosten und einer enormen sozialen Ungleichheit wahrgenommen. Schnell hieß es, es ginge nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre, die Zeit seit Ende der Diktatur, in der der Neoliberalismus weiter regiert. Am 7. Oktober, einen Tag nach der Erhöhung, protestierten die Schüler*innen in einer koordinierten Aktion, indem sie überall in Santiago die Drehkreuze übersprangen, Parolen riefen und andere zum kollektiven Schwarzfahren aufforderten. Aufgrund früherer Proteste gegen das neoliberale und patriarchale Bildungssystem sind die Schüler*innen extrem gut organisiert, in Schulversammlungen und übergreifendend. Dadurch wurden sie von Anfang bis zum Ende der Revolte zu einem zentralen Teil der Bewegung.

Nachdem die Polizei gegen die Proteste vorging, brannten kurze Zeit später mehrere Metrostationen. Während die Mobilisierung mittlerweile weit über die Schüler*innenbewegung hinausging und nach und nach alle Regionen Chiles erfasste, wurde die polizeiliche Repression immer brutaler. Der chilenische Präsident Sebastian Piñera ordnete eine Ausgangssperre an und verkündete in einer Ansprache an die Bevölkerung, Chile sei „im Krieg gegen einen mächtigen und unbarmherzigen Feind“. In dem Krieg des Staates gegen die Straße wurden allein in den ersten drei Wochen der Proteste 19 Menschen getötet und tausende verletzt und verhaftet. Durch Gummigeschosse auf Kopfhöhe verloren hunderte Menschen ihr Augenlicht. Doch weder die zunehmende Repression noch die ausdauernde Gegengewalt der Protestierenden bremste die Mobilisierung. Je stärker und gewalttätiger die Auseinandersetzungen wurden, desto mehr Menschen schlossen sich an, sodass sich die Proteste zu einem sehr breiten landesweiten sozialen Aufstand („estallido social“) entwickelten. Am 25. Oktober 2019 gingen nach offiziellen Angaben 1,2 Millionen Menschen auf die Straße, die größte Demonstration in Chiles Geschichte.

Zum Schutz der Demonstrationen und Versammlungen vor den Angriffen der Polizei organisierte sich eine „Primera Linea“ (dt.: erste Reihe), die mit Körperschutz, Schildern und Helmen ausgestattet eine effektive Gegenwehr aufstellte. In der Primera Linea kamen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, nicht wenige von ihnen standen politisch (als Anarchist*innen und Linksradikale) oder sozial (als Ultras, Kleinkriminelle und subproletarische Jugendliche) immer am Rand der Gesellschaft. Zu (nicht nur) ihrem Symbol wurde die Fahne der Mapuche, der chilenischen Indigenen, die seit der Staatsgründung unter allen Regierungen unterdrückt wurden. Im sozialen Aufstand wurden die Ausgegrenzten plötzlich als Helden gefeiert. Über den Höhepunkt der Revolte hinaus wurde die Erinnerung an die zahlreichen Toten, Verstümmelten und Gefangenen des Aufstands aufrechterhalten in Form von Demonstrationen, Gedenkorten und Street Art. Dabei entstand eine Verknüpfung zur Geschichte von Widerstand und Repression in der Diktatur. Zuvor war die Erinnerung an diesen Teil der chilenischen Geschichte eher eine Sache der organisierten Linken, jetzt erreichte sie auch die deklassierten Jugendlichen an der Basis des Aufstands. Unter dem immer größeren Druck der Straße kündigte Präsident Piñera schließlich ein Referendum über eine neue Verfassung an. In den nächsten Jahren stimmte die chilenische Bevölkerung mehrheitlich für eine neue Verfassung, für die Ausarbeitung der Konstitution durch eine neue Verfassungsgebende Versammlung (anstelle der Ausarbeitung durch die vormals gewählten chilenischen Abgeordneten), für eine linke und basisdemokratische Mehrheit in dieser Versammlung und 2021 schließlich für eine neue linke Regierung unter Gabriel Boric. Die Linke wurde fortan mit der Macht identifiziert. Doch an der sozialen Lage der ärmeren Teile der Bevölkerung änderte sich wenig, die Mapuche wurden weiter verfolgt und die Gefangenen des Aufstands blieben in den Knästen. Während die Pandemie und die Aussicht auf Veränderungen die Straßendynamik beendete, wurde am 4. September 2022 in einem Referendum der neue linke Verfassungsentwurf abgelehnt. Auch über diese Niederlage wird zu sprechen sein.

Repression & Widerstand

Im September und Oktober findet eine von der Roten Hilfe und dem Zusammenschluss Chilesoli.22 organisierte bundesweite Delegationsreise statt. Am 11. Oktober werden fünf Genoss*innen im Linken Zentrum über den sozialen Aufstand 2019, die Niederlage des Verfassungsreferendums und die Verknüpfungen zu Putsch und Diktatur sprechen:

Elisa ist Sprecherin der „Coordinadora Feminista 8M“, die sowohl an den außerparlamentarischen feministischen Kämpfen gegen Femizide und für die Legalisierung von Abtreibung beteiligt war, als auch an der Erarbeitung des progressiven Verfassungsentwurfs. Elisa ist darüber hinaus in der erinnerungspolitischen Gedenkarbeit zur Diktatur aktiv. Sie kommt aus einer linken Familie, von der Teile während der Diktatur ins Exil gegangen sind.

Esteban wurde 1992 in einer Familie kommunistischer und christlicher Aktivist*innen geboren. Er beteiligte sich an den Mobilisierungen der Studierendenbewegung 2011 und hat mehrere Geschichtsbücher zu Repression und Widerstand während der Diktatur veröffentlicht. Im Rahmen des Aufstandes 2019 und des folgenden verfassungsgebenden Prozesses war er u.a. Mitglied des selbstorganisierten Rates WAF in La Florida, einem Vorort Santiagos.

Antonia ist 19 Jahre alt, seit langer Zeit Teil der Schüler*innenbewegung in Chile, deren Proteste 2019 den Startschuss für die soziale Revolte gaben. Sie ist seit vier Jahren in der „asamblea coordinadora de estudiantes secundarios de Chile“ und von 2019 bis 2021 auch deren Sprecherin gewesen. Heute studiert sie in Santiago de Chile.

Tote und Pablo sind Künstler und Aktivisten. 2019 nahmen sie an der Revolte in Chile teil und dokumentierten den Widerstand gegen die Repression, die ästhetischen Ausdrucksformen der Menschen durch Graffiti, Wandmalereien und Drucken, die Aneignung öffentlichen Raumes als Begegnungsorte und kreativem Experimentierens. Auch selbst intervenierten sie mit künstlerischen Aktionen. So ist der #Negromatapacos (https://de.wikipedia.org/wiki/Negro_Matapacos) zu einem starken Symbol des Antagonismus zwischen der Straße und den Armen, die der Straßenhund repräsentiert, und den Herrschenden, Parteien und Institutionen geworden. Die beiden werden einige ihrer Werke, Fotos etc. ausstellen und verkaufen, um Antirepressions- und Bildungsarbeit zu finanzieren.