Isaac Julien: What freedom is to me

Das Kunstsammlung NRW zeigt aktuell im Untergeschoss des K21 Fotografien und kinematographische Installationen von Isaac Julien

In einem dunklen Raum auf drei großen Leinwänden Projektionen. Wellen türmen sich vor mir auf – also das, was einE ErtrinkendeR als letztes sieht. Titel: „Ten Thousend Waves“. Auf einer der Leinwände nun der Blick von oben aus einem Helikopter. Ein Suchscheinwerfer schweift über das Wasser. Mehrere verzweifelte Menschen sind zu erkennen. Im Off die Abfrage des Piloten über Funk, ob es jemanden gäbe, der Chinesisch spreche. Vermutlich seien dort unten Chines*innen. 2004 hatte sich das Unglück vor der britischen Küste ereignet, bei dem 23 chinesische Wanderarbeiter*innen ums Leben kamen. Die als Muschelpflücker*innen Jobbenden hatten die Gezeiten falsch eingeschätzt. Dann wird erst auf einer, anschließend auf allen drei Leinwänden ein Straßenzug im traditionellen Shanghai projiziert. Auf einer erscheint ein Kamerateam. Ein Kulissenteil wird über die Straße getragen. Ist es ein alter, in traditionellen Farben gehaltener Straßenzug, in dem gerade ein Film gedreht wird? Oder ist alles nur Filmkulisse? Die Frage ist absurd, wird mir bewusst. Denn was auf den Leinwänden als Projektionen erscheint, bedient nichts weiter als die Klischees, die wir vom „typischen China“ im Kopf tragen. Mit dem Shanghai von heute und der Realität der aktuell in England lebenden chinesischen Immigrant*innen hat es wenig zu tun. Neben schwarz-weiß-Aufnahmen von Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen auch solche aus der Kulturrevolution auf.

„Radikal politisch und hochästhetisch zugleich“, seien Juliens Arbeiten, heißt es im Pressetext. Julien durchbreche „traditionelle Vorstellungen von linearer Geschichte, Raum und Zeit.“ Wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass unsere traditionelle abendländische Auffassung von linearer Geschichte, Raum und Zeit nur Fiktion ist? Unser persönliches Erleben ist anders strukturiert: Vieles existiert da gleichzeitig. Und für chinesische Immigrant*innen ist nicht nur die Küste im Nordwesten Englands Realität, sondern parallel dazu auch die Erinnerung an China, vielleicht auch an die Meergottheit Mazu. Die Schutzgöttin der Seefahrer sehen wir über die britische See und auch zwischen den Skyscrapern von Shanghai schweben. Wenig später wird dieses Bild dekonstruiert: wir sehen nun die junge Frau, welche die Göttin verkörpert, an Stricken hängend vor einem Greenscreen, wobei eine Windmaschine ihr weißes Gewand bauscht. Dieser Reigen aus Collagen setzt sich über fast 50 Minuten fort.

Lessons of the Hour

Nicht weniger überwältigend ist die Installation „Lessons of the Hour“. Hier sind es nicht weniger als zehn unterschiedlich große und unterschiedlich hoch hängende Leinwände, auf denen die Projektionen erscheinen. Im Zentrum steht Frederick Douglass’s Rede „What to the Slave is the Fourth of July?“, die jener der Sklaverei Entflohene am Unabhängigkeitstag 1852 in Rochester, New York hielt. Julien ließ die Rede einen Schauspieler in der Royal Academy vor einem gemischten Publikum nachstellen. Leute von heute, aber auch historische Persönlichkeiten wie die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony sind zu sehen. Oder Ottilie Assing, seine deutsche Übersetzerin, eine Nichte des 1785 in Düsseldorf geborenen Karl August Varnhagen von Ense. „The fact is, ladies and gentlemen, the distance between this platform and the slave plantation, from which I escaped, is considerable – and the difficulties to be overcome in getting from the latter to the former, are by no means slight.“ Es ist, als spreche Douglass hier unmittelbar zum Publikum im K21. Auf einer der Leinwände tauchen nun Bilder von Überwachungskameras der Polizeidrohnen auf, aufgenommen während der Baltimore Riots im Kontext der „Black Lives Matters“-Proteste. Unmittelbar daneben ein Feuerwerk zur Feier des 4. Juli. „What, to the American slave, is your 4th of July?“, fragt Douglass. „I answer: a day that reveals to him, more than all other days in the year, the gross injustice and cruelty to which he is the constant victim.“ Mit seiner Projektion auf zehn Leinwänden, versuche er ein Setting „for a kind of visual meditation“ zu schaffen, sagt Julien. Bewusst biete er nicht nur eine Sicht und einen Blickwinkel. Er hoffe, dass Besuchende auf diese Weise eintauchen „into a sort of viewing that allows you a certain autonomy away from the ways that you would ordinary view things.“

Nicht erst Julien, bereits Douglass war die Bedeutung von Bildern bewusst. „Pictures, like songs, should be left to make their own way in the world“, forderte er. Und wir sollten ihnen einen guten Platz „in the best possible light“ an der Wand aussuchen und „for the rest allow them to speak for themselves.“ Douglass gilt als einer der am häufigsten fotografierten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts in den USA. Julien hat für die Porträtaufnahmen zu „Lessons of the Hour“ ein historisches Fotostudio nachbauen lassen.

Statues Never Die

Zum ersten Mal in Europa ist im K21 die 5-kanalige kinematographische Installation „Once Again...(Statues Never Die)“ (2022) zu sehen. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen dem US-amerikanischen Sammler Albert C. Barnes und dem Philosophen und Kulturkritiker Alain Locke, dem so genannten „Vater der Harlem Renaissance“, ein Dialog, der beide Seiten prägte und bedeutenden Einfluss auf ihre Arbeit als Pädagoginn*en und Aktivist*innen für verschiedene Anliegen der afroamerikanischen Community hatte. In den Ecken stehen eine Büste einer in Bronze gegossenen „Black Madonna“, zwei Masken so genannter „Stammeskunst“ und ein Speer – jeweils geschützt hinter Plexiglas. Doch es sind hier ebenfalls wieder die bis zu drei Meter hohen Projektionen – hier alle ausschließlich in Schwarz-Weiß – welche den Raum dominieren und sich zudem an den mit Spiegelfolien beklebten Wänden und Säulen spiegeln. Zwischen den Projektionen müssen sich Besuchende ihren Standort suchen.

Ganz frühe Arbeiten von Julien werden auf Monitoren präsentiert, so zum Beispiel „Who Killed Colin Roach?“ (1983), der während Juliens Aktivität im „Sankofa Film and Video Collective“ entstand, einer Gruppe von Londoner Kunststudent*innen aus der afrikanischen, asiatischen und karibischen Diaspora. Der 21-jährige Colin war am Eingang einer Polizeistation im Osten Londons erschossen aufgefunden worden. Die Polizei stritt jegliche Verantwortung für Colins Tod ab. Im Film werden Zeugen, Freunde und Eltern interviewt. Das Filmmaterial dokumentiert, dass es bei mehreren Demonstrationen die Polizei war, welche die Eskalation der Gewalt provozierte. In „Territories“(1984) thematisiert Julien unter anderem den Nottingham Hill Carnival ab 1976. In diesem von Schwarzen dominierten Viertel versuchte die Polizei immer wieder das ausgelassene Treiben auf den Straßen zu behindern, z.B. mit der absurden Behauptung, es sei eine „Eintrittskarte“ nötig, um am Karneval teilnehmen zu können, oder sie wollten die Soundtrucks wegen angeblicher Ruhestörung stilllegen. Doch den Trucks gelang es immer wieder, mit einer großen sich um sie scharenden Menge Tanzender die Sperren zu durchbrechen.

I’ll tell you what freedom is to me

Der Untertitel der Ausstellung ist einem Zitat von Nina Simone entlehnt: „I’ll tell you what freedom is to me. No fear.“ Sein Anliegen sei, betont Julien, das Publikum mit seinem Werk zu begeistern, Reflexon folge als zweites. Dass ihm dies gelungen ist, belegt auch die von Georg Imdahl in der FAZ erschienene Kritik. Der Rezensent schwärmt: „Komplett in Rot, Blau oder schimmerndes Grau getaucht, präsentiert sich das Tiefparterre der Kunstsammlung am Kaiserteich als Höhle einer avancierten Filmkunst.“ Der 1960 in London geborene Isaac Julien, Sohn von karibischen Eltern, die von Santa Lucia nach Großbritannien ausgewandert waren, würdige in der Ausstellung „historische Freiheitskämpfer, Schriftsteller, Intellektuelle.“ Er bereite ihnen „eine feierliche Bühne, die ihnen zu Lebzeiten nicht geboten wurde.“ Der Künstler gelte „als früher Protagonist konfliktreicher, neuralgischer Themen von der sexuellen Selbstbestimmung über Ausgrenzung, Ausbeutung und gesellschaftlicher Schikanierung bis zu Rassismus und dem Erbe des Kolonialismus.“ Julien sei zudem ein „Vorreiter des New Queer Cinema“.

Meine Zeilen hier sind nur einige persönliche Impressionen, keinesfalls repräsentativ für das, was alles zu sehen ist. Positiv ist, dass die Untertitel sowohl auf englisch wie auf deutsch erscheinen. Im Netz sind im Übrigen mehrere gute Videos und Interviews von und über Julien zu finden. Es ist ratsam, für einen Besuch viel Zeit mitzubringen. An der Kasse wird allen ein buntes Bändchen ausgehändigt, dass es erlaubt, zwischenzeitlich eine Pause einzulegen, z.B. eine Runde um den Schwanenspiegel zu machen oder einen Kaffee trinken zu gehen. Für Düsselpassbesitzer*innen ist der Eintritt frei.

Thomas Giese