Erwerbslose in den Keller gestellt

Eine Delegation Erwerbsloser dringt am 11. Oktober 1848 in das Düsseldorfer Rathaus ein und fordert, weiterbeschäftigt zu werden. Johann Peter Hasenclever hielt das Ereignis in einem Gemälde (1,54 × 2,25 m) fest. „Er hat Geschichte gemalt und Zustände dargestellt, wie sie waren und wie sie uns allen noch innerlich sind“, heißt es am 31. März 1850 in der Düsseldorfer Zeitung. Titel des Ölbilds: „Arbeiter vor dem Magistrat“. Durch das Eindringen der Erwerbslosen in die Stadtratssitzung geraten die Ratsherren gewaltig ins Schwitzen. „Dieses Gemälde und dessen Varianten von 1848/49 gelten als die einzigen heute noch bekannten Gemälde der Düsseldorfer Malerschule, welche die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 in Düsseldorf direkt dargestellt haben“, erläutert die Cambridgeprofessorin Margaret A. Rose 2015 im Jahrbuch des „Forum Vormärzforschung“. In ihrem Beitrag „Gemalte Politik“ schildert sie die Odyssee des Bildes. Erste Station: London – dort war es Oktober 1851 im Lichfield House am St. James’s Square in der Ausstellung „Pictures by the living painters of the schools of all countries“ zu sehen. Im „Athenaeum“, der damals in den Sparten „Literatur“ und „Wissenschaft“ führenden Zeitschrift in England, erschien eine Bildbesprechung, in der das Gemälde „for variety of character, impassioned gesture, truthfulness of perspective, and spirit“ gepriesen wird. Es sei „more eloquent than dozens of newspaper and other reports.“ Dann wird das Werk in Manchester, schließlich 1853 auf der Exhibition of the Industry of All Nations in New York ausgestellt. Karl Marx erklärt in der „New York Daily Tribune“ vom 12. August 1853 zu dem Bild: „What the writer could only analyze, the eminent painter has reproduced in its dramatic vitality.” Er fügt hinzu: „Those of your readers who, having read my letters on German revolution and counter-revolution and desire to have an immediate intuition of it, will do well to inspect the picture by Mr Hasenclever, now being exhibited in the New York Crystal Palace.“

In dem Gemälde ist eine besonders heiße Phase der Revolution und Konterrevolution festgehalten. Acht Tage zuvor hatte ein Düsseldorfer Geschworenengericht – eine Errungenschaft, die einst mit den französischen Revolutionstruppen ins Land gekommen war – den Dichter Ferdinand Freiligrath vom Vorwurf freigesprochen, durch „Vorlesen“ seines Gedichtes „Die Todten an die Lebenden“ und „durch Verbreitung desselben mittels der Presse das Volk zum Umsturze der bestehenden Gesetze und staatlichen Einrichtungen aufgereizt zu haben.“ Zwölf Tage nach dem Eindringen der Erwerbslosen in die Stadtratssitzung verhängten die preußischen Behörden über die Stadt den Ausnahmezustand. Polizeiinspektor Zeller wurde entlassen, Mitglieder des Regierungskollegiums vom Dienst suspendiert und versetzt, erläutert der Historiker Dietmar Niemann in „Düsseldorf während der Revolution 1848/49“(1983). In den Folgetagen war das Militär „in grausamer Weise gegen Bürgergardisten und ihre Angehörigen“ vorgegangen, wobei „eine 70-jährige Frau, die sich nicht zum Verbleib ihres Sohnes äußern wollte, mit Gewehrstößen zu Tode gefoltert“, wurde. Um erneuter Verhaftung zu entgehen, floh Freiligrath – er wohnte damals unmittelbar gegenüber der „Bilker Kapelle“, also dort, wo heute die Martinskirche steht – 1851 erneut ins Londoner Exil.

Arbeiter nicht mehr „on view“

Wie das großformatige Ölbild nach London gelangte, bleibt ungeklärt. Einige Forscher*innen vermuten, dass Freiligrath es 1851 mit im Gepäck hatte. Margaret A. Rose gelang es, bei anderem Licht ins Dunkel zu bringen. Sie trieb Briefe auf, in denen Freiligrath Karl Marx mehrfach drängt, sich das Bild in London anzusehen. Ob er es je gesehen hat, ist fraglich. Die Cambridge-Professorin vermutet, dass die im Athenaeum erschienene Bildbesprechung Marx als Grundlage für seine Zeilen gedient hat. Freiligrath hatte ihm den Zeitungsausschnitt im Sommer 1853 zugeschickt, in den Begleitzeilen bittet er Marx „in Hasenclevers Namen, noch einmal herzlich, das Bild in Deinem nächsten Artikel gehörig herauszustreichen.“ Dazu der Tipp: „Das Urtheil des ‚Athenaeum‘ gibst Du wohl am besten als Citat, auch schon deswegen, weil die Yankees ungeheuren Respect vor dem aesthetischen Urtheil des ‚Mutterlandes‘ haben.“ Vielleicht hat Marx das Gemälde also nie zu Gesicht bekommen und den im Athenaeum erschienenen Artikel nur ein wenig umformuliert.

Die „Worker before the Town Council“ – so der englische Titel – verblieben zunächst in den USA. 1976 wurde das Bild in einer Auktion bei Sotheby in New York von der Düsseldorfer Galerie Paffrath ersteigert, schließlich 1978 vom Kunstmuseum der Landeshauptstadt mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen erworben. Der Kunsthistoriker, -pädagoge und als DKP-Mitglied Kommunist Klaus Stein raunte einst: „Passt mal auf, die haben das Gemälde bestimmt nur angekauft, um es im Magazin verschwinden zu lassen.“ Ich glaubte damals, er litte an „akuter Verschwöreritis“. Doch seit der Wiedereröffnung des Kunstpalastes im letzten November sind die Erwerbslosen nicht mehr „on view“. Sie wurden tatsächlich in den Keller gestellt. Auch „Die Israeliten im Exil“, eine von Eduard Bendemann gefertigte Replik seines berühmten Gemäldes und bisher als Dauerleihgabe im Museum Kunstpalast, sind in den Katakomben verschwunden.

„Weniger Blabla – Mehr Aha!“

Mit Slogans wie „WENIGER BLABLA – MEHR AHA“ und „MEHR WOW – WENIGER GÄHN“ wurde die Neueröffnung des Kunstpalastes auf bunten Plakaten beworben (die Sammlung war wegen Umbaumaßnahmen drei Jahre lang geschlossen). Oberbürgermeister Keller freute sich vor laufender WDR-Kamera über die Wiedereröffnung. Der Kunstpalast sei immer schon „ein absolutes Aushängeschild für die Stadt Düsseldorf“ gewesen, „runderneuert und generalsaniert“ werde er nun „wirklich allen Anforderungen auch an ein modernes Museum gerecht.“ Es sei „eine moderne Sammlung von internationalem Niveau.“ Der internationale Maßstab, an dem sie sich messen will, scheint offensichtlich New York zu sein. Nach 1945 setzte die Stadt die aktuellen Normen für „West Art“. Sie prägte und verbreitete weltweit einen Begriff von künstlerischer Freiheit, der zu purer Ideologie gerann. Wie eng die Grenzen dieser „Freiheit“ sind, musste 1971 Hans Haacke erfahren. Der gebürtige Kölner beabsichtigte im Guggenheim-Museum windige New Yorker Immobilien-Geschäfte in Form eines „Real Time Social System“ zu präsentieren. Das Museum sagte die Ausstellung nur sechs Wochen vor der Eröffnung ab. Begründung: für „aktives Engagement mit sozialen und politischen Zielen“ sei im Museum kein Platz. „Ist alles so schön bunt hier!“, sang einst Nina Hagen und brachte damit den wesentlichen Unterschied zwischen DDR und der Bundesrepublik auf den Punkt. Und WOW! An der Oberfläche glänzt und glitzert es nun im Kunstpalast: „Ein Auto, ein VW-Käfer steht mitten im Museum und steht auch für die 60er Jahre, genauso wie Joseph Beuys, portraitiert von Andy Warhol und abstrakte Op-Art.“ Der Zeitgeist einer Epoche werde so lebendig, hieß es in einem Bericht der WDR-Lokalzeit Düsseldorf. Ausgeklammert bleibt, was sich jeweils parallel in Gesellschaft und Politik tat. Alles Oberfläche, Politur. Es fehlt der thematische Bogen, der inhaltliche Zusammenhang. Ein Beispiel: Der Künstlergruppe ZERO ist ein eigener Raum gewidmet. 1964 feierte ZERO in New York, Washington und auf der documenta große Erfolge. Im gleichen Jahr kam Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ in die Kinos. Warum hängt nicht ein Standfoto aus dem Film neben den ZERO-Werken oder z. B. Thomas Ruffs „press++ 60.10“, ein Pressefoto von dem Baker-Day-Atombombenversuch, von Ruff ins Riesenhafte vergrößert, auf das durch Doppelbelichtung der Pressetext von der Rückseite reinkopiert. Der ist an Zynismus nicht mehr zu toppen: „WHAT GOES UP MUST GOES DOWN – Tons of water thrown up out of Bikini lagoon by the Baker Day blast shower down on the Crossroads target fleet. The spreading circle of radio active materials is shown sweeping out in an ever widening ring over the target ships.“ Das wäre in der Tat eine Provokation gewesen, hätte gezwungen, darüber nachzudenken, inwieweit abstrakte Kunst, Koreakrieg und Kubakrise zusammenhängen, also die Frage: Hat das Dogma der Abstraktion womöglich ganz direkt etwas mit jener Zeit des Kalten Krieges zu tun? Aber Nachdenken war damals nicht und ist heute nicht gefragt.

Keine hohlen Abstractionen!

Düsseldorf stand einst für eine völlig andere Auffassung von Kunst. Der Düsseldorfer Armenarzt Wolfgang Müller von Königswinter, der Gedichte, Prosa und kenntnisreiche Kunstkritiken verfasste, erinnert sich 1854 an die Zeit des Aufbruchs nach der Pariser Julirevolution: „Man wollte keine hohlen Abstractionen mehr, man forderte contracte Darstellungen aus Fleisch und Bein […].“ Eine junge Generation Historienmaler rund um Carl Friedrich Lessing, einem Großneffen des Dichters der Aufklärung, wollten „frisch und keck in die Ereignisse greifen, die zu dem Leben in unserer Zeit in einer bestimmten Beziehung stehen.“ Sie „wenden sich in lebendigen Schilderungen den Kämpfen neuer Zeiten zu.“ Viele dieser Werke fanden als Kupfer- und Stahlstiche Verbreitung. „Bendemann’s Judenbilder sprechen ein tiefernstes Wort hinein in die Tagesdebatten über Emancipation des unglücklichen Volkes“, konstatiert Hermann Püttmann 1839. Das Gemälde „Die schlesischen Weber“ wurde in mehreren Städten in Sonderausstellungen gezeigt. Und dieses „has made a more effectual Socialist agitation than a hundred pamphlets might have done“, versicherte Friedrich Engels am 13. Dezember 1844 in der Londoner Zeitschrift New Moral World.

Das Scheitern der Revolution im Jahr 1848 bewirkte einen Bruch. Auch in den Künsten. „Die Demokraten sind todt geschossen, im Auslande, oder versimpelt“, schreibt Georg Weerth im April 1851 in einem Brief an Heinrich Heine. ‚Demokratische Kunst made in Düsseldorf’ wurde in Transportkisten verpackt und nach Übersee verschickt. Durch diese Verkäufe konnten einige Künstler ihren Lebensunterhalt sichern. Schon 1849 öffnete am Broadway die „Düsseldorf Gallery“. Eine von Carl Hübner gefertigte Replik seines Gemäldes “Die Schlesischen Weber” landete Ende 1849 in dieser Galerie, ein Werk, das der US-amerikanische Kunsthistoriker William Gerdts als „one of the most strongly class-conscious and confrontational Düsseldorf paintings” bezeichnet. Diese Replik der”Schlesischen Weber” wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Kunstmuseum Düsseldorf erworben. Sie hängt aktuell auch im Kunstpalast, allerdings derart hoch, dass kein Detail mehr zu erkennen ist. Übrigens: In jenem Saal im New Yorker Crystal Palace, in dem 1853 das Gemälde „Arbeiter vor dem Magistrat” ausgestellt war, hing auch eine kleinere Version von „Washington Crossing the Delaware”. Das Original hatte Emanuel Leutze 1851 hier in Düsseldorf geschaffen, und dieses Monumentalbild prangt heute im American Wing des Metropolitan Museum. Als es 1851 erstmals im Stuyvesant Institute am Broadway ausgestellt war, berichtete das Mitgliedsblatt der „American Art Union”, dem damals größten Kunstverein der USA, über den großen Erfolg des Gemäldes. Am Ende des Berichts heißt es geradezu programmatisch: “Art has nobler work to do than to invoke the ghosts of dead ideas. She must ally herself to the realities of daily life. She must link herself with the great thoughts that are stirring the hearts of living men and women.“ Die Kunst müsse wie Jeanne d’Arc eine Rüstung anlegen, “and lead the hosts in the great battle of Truth, marking by her bright oriflamme the spot where the contest is the hottest, and the victory most uncertain.”

Mit dieser Auffassung von Kunst hat die Kunst und „angewandte Kunst”, die aktuell im Kunstpalast präsentiert wird, nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Thomas Giese