music & book
Welten im Zusammenbruch

Ich bin jetzt noch wie so oft völlig traumatisiert. Im Editoral der letzten Terz wurde Hack Mack Jackson als bei "uns umstritten" und meine Vorwüfe unter "Sportbetrug eines Redakteurs" zusammengefaßt. So steht es also um die Selbstreflexion der letzten Linken. Es geht doch auch bei Christoph Daum nicht um sein persönliches Drogenproblem. Der Mann arbeitet mit jungen Menschen! Er hat Vorbildfunktion! Möchten Sie, daß jemand Ihren 18 Lenze jungen Sohn mit irrem Kokser grinsen betrachtet und "Nimm Volley" oder "Nicht mit der Picke nehmen" schreit? Ich bitte Sie. Das geht zu weit. Die vergleichbare moralische Komponente zu erkennen erwarte ich von Terz Redakteuren. Standpunkte statt falsch verstandener Liberalität!

So fordere ich auch erbittert, daß unser Außenminister zurücktritt. Er hat einen Menschen geschlagen! Gut, das ist schon eine Weile her, aber das schadet dem Ansehen des Landes bei allen friedliebenden Leuten. Das ist untragbar. Zugegebenermaßen fordert man seinen Rücktritt nicht wegen der noch nicht so lange zurückliegenden Bombardierung Jugoslawiens, das war ja auch völlig in Ordnung. Wo es um Slawen geht, zumal Serben, kennt der Deutsche keinen Pardon. Aber er hat sich an einem deutschen Polizisten mit deutschem Kinnbart vergriffen. Weg mit ihm, mir soll's recht sein und wenn der Grund noch so lächerlich wäre.

Erst einmal ein Lesetip. Eine kurze Biographie des Marinus van der Lubbe von Martin Schouten liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor (Verlag Neue Kritik). Die traurige Geschichte dieses jungen holländischen Rebellen liest sich sehr interessant. Wobei deutlich wird, wie sehr engagierte Leute selbst im Ausland schon früh den Charakter des Naziregimes durchschauten und dagegen etwas tun wollten. Es werden auch die verschiedenen politischen Mißbräuche des Reichstagsbrandes 1933 dargelegt, darunter die kommunstische Lüge, daß van der Lubbe im Auftrag und mit SA Männern zusammen den Brand gelegt hätte. Er war, wie Georg Elser ein Einzelkämpfer mit Courage, allerdings mit ganz falscher Einschätzung der wirklichen Lage in Deutschland. Hatte er doch geglaubt, daß sein Fanal das deutsche Proletariat in den antifaschistischen Befreiungskampf führen würde, wo das sich doch in der Masse mit dem Regime schnell arrangierte oder sich duckte. Ein absolutes Ärgernis ist das miese Lektorat, so wird aus der PDS immer die Partei Deutscher Sozialisten. Peinlich, obwohl der Name - wenn man sich die jüngsten Äußerungen von z.B. Frau Zimmer oder Herrn Dehm durchliest - gar nicht mal so verkehrt wäre...!

Musik gibts auch noch: Schaurig schöne Tanzweisen und Balladen findet man auf Il Canto Di Malavita (Pias), den geheimen (nun wohl nicht mehr so geheimen) Gesängen der Mafia. Die Texte, die sich hier finden, liegen in deutscher Übersetzung bei und sind zugegebenermaßen derb. Die Meinung der Mafiosi über Staatsgewalt, Polizei und Spitzel wird klar und deutlich formuliert und ist stellenweise gar nicht so....lassen wir das jetzt besser. Da ist unser Bullenschreck Joschka nun wirklich ein Amateur gegen. Die Herkunft der Musik bleibt etwas im Dunkeln, jedenfalls eine kuriose CD.

Ebenfalls sehr schön ist von Trikont: Heartbreakers 1927-1946: Blue & Lonely. Ein wunderbarer Sampler mit obskuren Herzschmerz Aufnahmen zwischen Blues und Jazz. Dinah Shore's Blues in the Night und Greta Keller's Blue Moon sind noch bekannt, der Rest nicht. Mir gefallen am besten Blind Willie Johnson, der seinen Ärger fast schon punkig rausbrüllte. Er tingelte durch die Kneipen und da er blind war, hatte er an seiner Gitarre eine Blechbüchse befestigt, in die man Geld werfen konnte. Ebenfalls sehr anrührend ist Ma Rainey's Daddy Goodbye Blues, da hört man, was es heißt etwas mit Gefühl zu singen, ohne x-fach oversampling. Die CD ist perfekt für Menschen, die trotz Unglück darüber lachen können; manisch Depressive sollten es besser lassen. Ihr wißt doch: Die Liebe ist der einzige Beweis für Gottes Existenz, denn nur ein bösartiges Wesen, aber niemals die Natur hätte einen solchen Unfug erfinden können. Eine wichtige theologische Entdeckung! Ich stehe jedem Christenmenschen gerne zur Diskussion bereit!

Jetzt noch eine Hommage an Solingen. Jawohl, Solingen die weltberühmte Fast-Großstadt mit den Klingen, Schlössern, Würfeln oder weiß der Teufel was auch immer. Kürzlich erstand ich im Suff bei einem Konzert unter anderem mit den guten Solingern Radiaton Kings eine Sampler-CD für ganze 10DM mit Punk, Trash, Surf und und und aus Solingen. Wirklich gut. Hypecity Nr 1 mit Sounds von 1990-2000 mit Embryonics, Boonaraas, Eaglebauers und vielen anderen.

Zum Abschluß noch eine Bemerkung zu der verständlichen Verärgerung einer Leserin über üble Belästigung im AK47. Ich will da wahrlich nichts entschuldigen, aber das AK ist und war nie ein "linker" Laden, auch kein antifa oder pseudolinker, sondern immer nur ein Punk Rock-, Absturz-, Delirium-Schuppen. Wobei ich damit nicht sagen will, daß das dann halt normal ist. Ist es nicht. Aber für Dinge, die im AK laufen, sind nun nicht die paar "Linken Macker" oder Frauen zuständig, die sich in dieser Stadt überhaupt noch äußern.

Fehri


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"Ein Furz in die Fresse Hitlers"

"Der geheimnisvolle Jazz kommt nicht von den Negern. Er kommt von den Niggern, aus der augenverdrehenden Inbrunst ihrer Spirituals und der weit, weit an die schwarzen Ahnen erinnernden Extase ihrer Tänze. Aber nicht sie haben uns das ‚geschenkt'. Die Geschäftigkeit der amerikanischen Musikindustrie machte sich die Musik der heimatentwurzelten, in die Segnungen der Zivilisation hineingepferchten Nigger zunutze und verkündeten bereits 1914 das Goldene Zeitalter der neuen Tanzmusik. Man muß dieses ‚Geschichtliche' wissen, um erkennen zu können, wie tief das Übel sitzt." So heisst es in der Zeitschrift "Der SA-Mann" aus Nazi-Deutschland im Jahre 1938. Im Juli 1942 brachte Spike Jones seinen größten Hit "Der Führer's Face" auf Platte. Spike Jones, der die erste regelmäßige Radio-Show in den USA hatte, machte mit seinem Hit die Nazis lächerlich. Untermalt vom Einsatz von Spielzeuginstrumenten und einem "Heil!"-Chorus verspottet er die deutsche Autoritätshörigkeit und sendet einen Furz in die Fresse Hitlers - der erste Comedy-Hit der Weltkriegszeit und einer der Schätzchen auf der genialen Scheibe "crazy&ob-scure. Novelty Songs 1914-1946" aus der liebevoll und orginell konzipierten "Flash-backs-Serie des Trikont-Verlags. Groucho Marx trällert dort sein sympathisches "I'm against it", Billy Costello bringt den genialen "Popeye"-Song und Roland Frankau & Monte Crick können die interessierte TERZ-Leser/innen/schaft mit dem Hit trösten "everyone's got sex-appeal for someone". Da lachen sogar die einzigen deutschen Interpreten auf der Scheibe: Karl Valentin und Lisl Karlstadt.

"Hot & Sexy" geht´s zu auf der "Copulation Blues 1926-1940" in der Nr. 3 der "Flashbacks"-Serie. Es sind schwarze Herumtreiberinnen wie Ethel Waters, eine ehemalige Anführerin einer Straßengang, die sich den Blues gaben. Outcasts waren es; Gelegenheitsarbeiter, Nutten und geprügelte Hunde; ein Mix aus Schwarzen, Chinesen, Juden und weissen Losern, die in Scheunen und Bretterbuden Ethels obzöne Songs genossen: "Es war ein großer Schmelztiegel, in dem es keine rassistischen Vorurteile gab. Wir alle, Schwarze, Weiss und Gelbe waren Aussenseiter und hatten zusammen eine wundervolle Zeit." So schildert die Blues-Sängerin ziemlich verklärt ihre Sexy-Underground-Zeit. Ob nun verklärt oder auch nicht: Der Blues hier zieht dir jedenfalls die Hose aus und du singst und schreist emphatisch mit: "I don't mean a thing, if I ain't got that swing!" Blues-Sänger Son House erzählt: "Bei den Tanzveranstaltungen Samstags nachts konntest du alles singen und sagen - die Leute waren gut drauf und gewillt, sich jede geile Schote anzuhören, es konnte ihnen nicht ‚dirty' genug sein." Da ändern auch die Kastrations-Drohungen von Lucille Bogan nichts mehr dran, die singt: "If you meet your man and he tell you a lie - just pull out your razor razor and shave him dry!" "Shave `em dry" ist hier nämlich zugleich der Slang-Ausdruck für die schnörkellose Nummer und die Lieder erklären dir, wie nahe Liebe und Schmerz bei einander liegen. Also: "Press my button, ring my bell..."

Aber die absolute Offenbarung, Leute, die kommt mit der "Flashbacks#5" unter dem Titel "Halleluja - Gospel & Prayers" daher. Hier ist wirklich ausnahmslos jeder Song ein absolutes musikalisches Schätzchen - Lieder, die dir durch die Seele gehen. Save my soul - Spirituals vom Allerfeinsten. "Das, was du Beat nennst, gab es schon immer in der Kirche. Als es noch keine Orgel gab, klatschte man mit den Händen, stampfte mit den Füßen. Es gibt gestöhnte Bluessongs, die ihren Ursprung in Sprituals haben, es gibt Spirituals, die ursprünglich Bluessongs waren. Der Blues ist wie eine gute Frau, die sich unwohl fühlt und ein guter Spiritual ist etwas, das dein trauerndes Herz beseelt." So erklärt der Blueser und Gospel-Singer Thomas A. Dorsey die seltsame Symbiose aus Spiritualität, Erotik und Rhythmus. Über Dorsey geht die Kunde, dass der Prediger H.H. Haley den verdorbenen Blues-Shouter von seinen Depressionen heilte, indem er ihm eine lebende Schlange aus seiner Kehle zog. Hört euch diese Scheibe an und ihr werdet zustimmen, dass sich diese Geschichte nur so oder zumindest so ähnlich zugetragen haben muss.

Das Merkmal der Kulturindustrie ist die vollständige Subsumtion jeglicher kulturellen Ausdrucksform unter das Diktat der Warengesell-schaft. Das Verhältnis von Produzent zum Rezipient reduziert sich auf den gesellschaftlichen Verblen-dungszusammenhang: Kultur als warenförmige Wiederkehr der immergleichen Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse unter der Verkümmerung von Geist und Seele. Der kritische Philosoph Adorno, der auch seine Jazz-Kritik unter diesem Diktum formulierte, irrte hierbei ausnahmsweise einmal. Denn er kannte die "Flashbacks"-Serie schließlich noch nicht. Wir haben es Werner Pieper zu verdanken, Adorno einmal mit empirischen Belegen widerlegen zu können. Als Rechercheur und "Flashbacks"-Initiator stellte dieser beneidenswerte Pieper jene Schätzchen zusammen und belegt damit folgendes: Gott ist doch nicht tot, wenn er uns den Blues singt und manchmal können die Menschen auch unter dem Diktat kapitalistischer Warengesell-schaft doch noch unter nicht-entfremdeten Verhältnissen arbeiten und produzieren. So wie Werner Pieper. Arbeit als das Reich der Freiheit - jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen - und dann macht das Produzierte noch die Menschheit glücklich, beseelt und sexy... Gönnt euch, dem beneidenswerten Werner P. und dem Trikont-Verlag diese wunderschöne Lebenslüge und kauft euch die Scheiben - sofort; es wirkt - garantiert!

AL C.

Blues aus dem Anfang
bis in die Mitte des fuckin' 20th century


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SPARE PARTS

2001 Face Odyssee: bei all den Leuten, die schon angekommen sind, möchten wir uns bedanken, dass sie Denkmal in Doof für uns spielen, dass sie nicht aufhören können, sich in kleinbürgerlichster Verwirrung als karrierisierte Konzeptaddicts zu präsentieren oder als ewig besserwisserische Schmierenkomödianten, oder, auch sehr schön, als supernovabekloppte Redner vom "amtlichen" Dasein in ebensolchen Zusammenhängen. Da werfen wir Würgemotoren an, und die dazugehörigen Würgeengel entschweben den Triebwerken und beginnen lakonisch ihr Werk. This Work does not pay, so here we are to say: get in the swing and begin the begin. Ein Farbenwechsel ist angesagt: JAN JELINEK, bekannt und geliebt als ebensolcher, nämlich als FARBEN, hat schon vier sehr schöne EPs auf Klangelektronik aufgenommen, als GRAMM auf einer Platte auf Source und jetzt verfasst er das Beste aus seinen Welten unter dem eigenem Namen: LOOP-FINDING-JAZZ-RECORDS ist so schön geworden, dass man den Clicks und Cuts beim Swingen zuhören kann. Ganz ruhig und entspannt, wie es sich für Stefan Betkes SCAPE-Label gehört, warme House-vibes in Fruchtzwergengrösse bauen sich gefährlich klein vor Jazz auf und ziehen das Konzept sanft auf die Matratze. Das ist Schlummerdub, gefährlich sexy, weil wenig plakativ, aber omnipräsent, grosses Zeug mal wieder, da so klein in seiner kompaktkonzen-trierten Fluffigkeit. Riecht nach einem späten Vodka-Lemon, der einen falschen Gedanken ertränkt. Bitte reinhören. Gilt natürlich auch für VLADISLAV DELAY, der nach einer komischen Omnipräsenz erstmal Pause braucht, um zu produzieren. Bitteschön: ANIMA (auf Mille Plateaux) ist eine Platte, für die jene ausgelutschte Vokabel "Reise" dann doch noch mal wieder zutrifft, minus aufgesetztem Hippiefaktor jedoch: in einem Track von 62 Minuten entfalten sich Klangblütchen und verwelken in slo-mo, werden zu Humus, und Silizium tritt aus dem Boden. Schädelröhren füllen sich langsam mit gelbem Wasser, darin schwummern Bassfische, die sich in durchsichtige Membranzeller scheibeln. Musik zum Wegdriften, ohne sich aufzugeben, aber doch um seine paar wichtigsten Habseligkeiten wie Gespür und Verstand mitzunehmen und ordentlich einzusammeln und abzugeben. Vielleicht auch auszuteilen, aber das dann nicht zu knapp. Gewohnt Grosses auch von MONOLAKE: GRAVITY (Imbalance) ist einmal mehr: Geckos, Libellen, Nachtfalter, Labyrinthe, Königinnen der Nacht - und alles ausgedubbt und eingebufft, dass späte Träume doch noch früh genug wahrwerden. Auf solche gute Musik muss dann 1fach konsequent hingewiesen werden. Mittlerweile ist Software-Entwickler Robert Henke Alleinverwalter der gesammelten Geheimnisse des Monolakes, Gerhard Behles unterstützt das Projekt jedoch noch. Stets wohnt diesen Klängen eine eigentümliche Tiefe und Originalität bei, die überdeutliche Präzisionsarbeit, die dafür nötig ist, wirkt aber nie aufgesetzt oder demonstrativ. Die Schichten führen ungleich weiter in Grenzgebiete, in denen gefrorene Romantik und flackernde Abstraktion ruhelos, gewitzt und um Nichtwissen wissend um die Häuser und Hügel ziehen. Eine ungleich härteres Kaliber ist dagegen das neue Minialbum LIP SWITCH EP von RICHARD DIVINE (Warp). Der Grafiker aus Atlanta schwirbelt unglaublich komplexe Beatpatterns zusammen und lässt die Rhythmik zwischen Abstraktion und Tightness kesseln. Als Remixer von Aphex Twins "Come To Daddy" in bester Erinnerung geblieben, generiert er hier mit 8 Stücken einen düsteren Maschinenfunk, nervös, hyperventilierend und auf bedrohliche Weise futuristisch. Drum & Bass-Mutationen sind komplett flooreman-zipiert im Hier&Jetzt angekommen, und "der Beat selbst ist die Musik", wie Devine sagt, genauso wie viele Jazzer vor ihm. Das Artwork dieser Platte ist zudem eines der schönsten, das ich in letzter Zeit gesehen habe. Sehr empfehlenswert, wie auch natürlich die neuesten Spuren der Mitbegründer dieser Ästhetik AUTECHRE: deren PEEL SESSION 2 (Warp) schafft es, auf vier herausragenden Tracks dem Etikett "futuristischer Musik" erneut Leben einzuhauchen. Keiner verbindet Atmos-sphärik, Intelligenz und Disharmonie so nüchtern und gelassen wie die beiden Briten, die schon längst niemandem mehr etwas beweisen müssen ausser sich selbst. Ein definitives Highlight des Monats, verkürzt die Wartezeit auf das Album Mitte des Jahres. Das elektronische SUBROSA-Sublabel QUARTERMASS (EFA) hingegen trumpft mit seiner bereits dritten Compilation auf: SUBSTANCIA 3 verpackt 11 nahezu unveröffentlichte Tracks als Teaser auf kommende Artistalben. Herrausragend: die bizarr-strangen Bisk, die evergenialen Beatknüppler Freeform und Mash'ta, die Minimalbombastiker Bump & Grind und die Sample-Crazies Tal. Nach wie vor eine der besten Schnittstellen zwischen Indietronics und launigen elektristischen Spielchen. More Albums yet to come...Mit kleinen Paukenschlägen kündigt sich dann selbstredend die neue Platte von TORTOISE an. Die 5-köpfige Band klingt auf STANDARDS (Warp) ungleich geschlossener als auf dem Vorgänger TNT, der den Prozess der Bandmusik im und durch das Studio als Systemstruktur komplett auseinanderdekonstruierte und in Fragmenten wieder zusammensetzte. Danach folgte eine sehr weit ausgedehnte Welttournee und eine Phase des intensiven Probens und Findens von neuem Material, das folgerichtig kompakter, griffiger und auch eher direkt klingt. Nach wie vor ist es eine Freude, eine Band so "funktionieren" zu hören und zu sehen, und vor allem live sind TORTOISE stets eine Klasse für sich. Reflektiert und integriert hangeln sie sich haarscharf zwischen Präzision und aufgesetztem Muckertum vorbei. Eine kalte Platte, die man immer wieder aufkochen muss, dann verliert sich der letzte Rest von zuviel Artifizialität im Sud, und es fängt still an zu kochen. Wie immer beachtenswert, wächst im Alltag. Nicht ganz so gut (kicher), aber mit teilweise ähnlichem Klientel: OLE LUKKOYE, die wichtigste russische Psychedelic-Improvband, die ihr 1979er Album DOODOO-DOO (welch ein Titel!) auf dem sympathischen KLANGBAD-Label der Ur-Krauter FAUST veröffentlichte. Die Band aus St. Petersburg existiert aus dem dortigen seeligen Underground der 80er heraus, ihr Sound ist eine Mischung aus dem seit einiger Zeit auch durch aufgeklärte Kreise leider wieder gehyptem Progrock (ist schick für Distinktionsgewinn, sich zum "Yes"-Fan zu bekennen), Spacerock und der Erforschung mystisch-schamanischer Musiktradition Zentralasiens, so der Gesänge der südsibirischen Tuwa. Das alles klingt gruseliger, als es in Wahrheit ist, denn die Band ist nicht aufgesetzt, sondern wandelt tief in Tradition und Authentik. Tip: sich erstmal vom "amtlichen" Teror der "firstworld"-Kulturindustriescheisse - dazu gehört logisch auch der "Underground" - und der eigenen kaputten sozialen und ökologischen Umgebung dezentralisieren, dann kann mensch sich unvoreingenommen darauf einlassen. Auch wenn's nach Trance & Esoterik riecht - westliche Popkultur und deren mediale "Vernunft" ist mindestens ebenso esoterisch. Noch ein wenig Folklore: WALTER BECKER - gemeint ist nicht die eine Hälfte von Steely Dan, sondern einer der besten Tangointerpreten der Jetztzeit - stammt aus Buenos Aires und ist mittlerweile vielleicht der beste Tangosänger in diesem viel zu deutschem Land. Überzeugen könnt ihr Euch auf TANGO...Y OTROS PECADOS (Schmetterling Verlag Stuttgart), einem umwerfendem Zeugnis von der vitalen Kraft, die der Tango weit ab von jeder gelackt-polierten Lifestylemaghysterie immer noch hat. Becker singt nicht, heisst es, sondern zelebriert ein Lebensgefühl - wie wahr, wenn man hört, wie tief er sich in dem klassischen und modernen Material bewegt. Sein Vortrag dieser zutiefst von einem wahren Leben durchtränkten Texte zu Klängen, die zwischen Melancholie und kraftvoller Intensität liegen, ist erschütternd und bewegend: "Nimm es mit Ruhe. Dies ist reine Dialektik. Es wird dir so oft im Leben noch passieren! Ich hab dir gesagt...erinnerst du dich? Jeden Tag anfangen, über die toten Landschaften der Vergangenheit zu malen, und zu bewirken, dass sie jedesmal neue Musik brauchen, auf einem neuen Klavier...Du kannst schon das Klavier wählen, die Musik eines neuen Lebens schreiben und es intensiv leben, bis du dich wieder irrst, und dann...wieder anfangen und dich wieder irren, aber immer leben...intensiv leben...Denn: - weisst du, was Leben ist?" Danach kommt erstmal eine Zeit nichts mehr. Dann aber doch noch ein Shoutout zu den Poeten der Jetztzeit: der notorische HipHop-Produzent M-BOOGIE aus Los Angeles versammelt auf LAID IN FULL II (Groove Attack) nur brandneues Material von independent artists wie Mykill Miers, Triple Seis von der Terror Squad, Blackmoon's Buckshot, Sandman oder Grant Agent. Das ist klar der HipHop-Joint-of-the-month, unglaublich dichter Rhythmusfluss, satte Reime ohne jeglichen Verschleiss und tiefgelegte, gut abgehangene und gleichsam zukunftswippende Produktionen, die einfach nur Spass machen. Das ist HipHop wie ein gutes Mixtape, alles geht ineinander über und wird nochmal so gut. Dann eine Überraschung: IAN SIMMONS ist wieder zurück. RETURN TO X (Stud!o K7) ist keineswegs ein lahmes und gut eingefurztes Acidjazzscheibchen geworden, sondern eine oberspannende und richtungsweisende Produktion, die lässig wie eine Spy-Bar-Fly guten Nektar aus verschiedensten Szenen, Clubs und Zusammenhängen saugt und daraus eine tiefdunkelfunkelnde minimal-treibende Soundscapemelange schafft, die vom ersten bis zum letzten Track in Atem hält. Seltsam gute Platte, absolute Qualitätsarbeit, sagenhafter Vibe. Hoffentlich wird dieses Juwel nicht unterschätzt! Auf keinen Fall wird dies mit GEOLOGY: A SUBJECTIVE STUDY OF PLANET E VOL. 2 (auf EFA) passieren. Denn diese vom Detroiter DJ und Produzenten MIKE CLARK gnadenlos gut gemixte Geschichte ausgesuchter und wirklich komplet rarer Perlen vom PLANET E-Label des Detroit-Masterminds CARL CRAIG ist schon jetzt eines der House-Alben des Jahres. Wer House in einer seiner allerbesten Formen erfahren will, muss hier reingehen: das ist Clubkultur ohne Schranken, das ist Musik mittels einer geerdeten Vision, warm, weich, funky und tiefer als der Mariannengraben. Unveröffentlichte Stücke wie "Steam" von Paperclip People, Chaz Vincents "human powered flight" oder Kirk Degeorgios "Common Factor"-RMX gesellen sich zu längst vergriffenen Klassikern wie Mark Bells "Jak to Basics". Diese Geschichte von Planet E gräbt aber auch verstärkt in der Neuzeit, ist also Überblick und Ausblick zugleich. Und sie ist noch lange nicht zuende. Am Ende aber der bewährte kick-in-the-ass via DIGITAL HARDCORE-Records: Die fast all-girl-Band LOLITA STORM hat auf ihrer SICK SLITS EP 6 morbid-kaputte Geschichtchen über ebensoviele Mädchen versammelt, und ihnen als Titel jeweils den Namen der tragischen Heldinnen gegeben. Sleazy Enter-tainment über fehlgeleitete oder schlichtweg 1fach bescheuerte Frauentypen, die fremden- oder ihren eigenen Images auf den Leim gehen. Nur eine mutmachenden Figur, Candy, schafft den Ausbruch: ein a-typical girl erkennt ihr eigenes Potential und hört nicht auf bigotte Kritik. Das alles mit Hardcore-Breakbeats und Kindermelodien. Entzückend. Bis zum nächsten Mal.

MARCUS