„Kein Gesinnungsverfahren“

Anfang Februar 2016 endete am Wuppertaler Landgericht nach zwölf Verhandlungstagen der Strafprozess gegen drei Neonazis, die im April des letzten Jahres einen Freund und Besucher des Autonomen Zentrums mit Messerstichen, Tritten und Schlägen lebensgefährlich verletzt haben. Die vielen Stunden im Gerichtssaal haben Spuren hinterlassen. Sie haben aber auch vieles wie unter einem Brennglas abgebildet, Vieles, was wir ohnehin schon immer wussten: Justitia trägt ein Monokel – und die Polizei ist ein Zyklop.

Es sollte ein paar Wochen dauern, die Verhandlungs-Phase im Justizzentrum in Wuppertal im Rückblick betrachten zu können. Zu massiv waren die Eindrücke aus dem Gerichtssaal, zu massiv war auch der Angriff, um den es ging. Quälende zwölf Prozesstage lang hörten Unterstützer*innen und Freund*innen im Gerichtssaal, was Zeuginnen und Zeugen zum Mordversuch an ihrem Freund und Genossen vor der Großen Strafkammer des Landgerichts und gegenüber deren Vorsitzendem Richter, Robert Bertling, aussagten. Sie wurden Zeug*innen, als der Faserspuren-Sachverständige des Landeskriminalamtes die Kleidung des beinahe tödlich verletzten im Gerichtssaal vorführte – sachlich, kühl, als sei das vom Blut braun verfärbte T-Shirt des Opfers ein interessantes, eher seltenes, aber nicht besonders spektakuläres Insekt. Die Prozessbeobachter*innen nahmen aber auch wahr, wie sich die Verteidiger*innen, die Richter*innen und der Staatsanwalt um die Asservate beugten, als der Verteidiger des Hauptangeklagten Patrick Petri mit öliger Stimme vorschlug, den Angriff mit Täter und Opfer doch nachzustellen, um die Stichrichtungen, die sich im Stoff der Kleidung des Angegriffenen abzeichneten, genauer analysieren – und seinen Mandanten entlasten – zu können. Wir denken – auch heute noch: Was für ein widerlicher Mensch, dieser Verteidiger.

Wir erinnern uns auch an die Zwischentöne. An Richter Bertlings Vorschlag, das Opfer, das zur Zeugenaussage geladen war, könne sich doch im Gerichtssaal, vor den Tätern(!) entblößen – „Männer sind da ja nicht so empfindlich“ –, damit die ebenfalls geladene Notärztin den Zeugen vor den Augen des Gerichtes, der Verteidiger*innen und ihrer Nazi-Mandanten noch einmal untersuchen und die Anzahl der von ihr selbst damals versorgten lebensgefährlichen Stichverletzungen erneut begutachten könne. Ein kurzes enges Kleid trug die Notärztin im Gerichtssaal. Richter und Verteidiger waren sichtlich beeindruckt. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Herrenwitz und die Kälte der Empathielosigkeit füllten im selben Moment den Raum. Immer wieder waren solche Sekundenbruchteile oder schier endlose Minuten der Beweisaufnahme schwer zu ertragen. Der Blick aus dem Fenster auf die Wupper und die Schwebebahn (alle zehn Minuten pendelt sie vorbei – in die eine oder in die andere Richtung. Wer es schafft, kann kurz an den knuffigen Elefanten denken, der einst aus der Schwebebahn plumpste) ist gestört durch die dunklen Schriftzüge auf der Glasfassade, ein Buchstabenband vielmehr: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, vor dem Gesetz sind alle Menschen ... Sind sie? Sind sie alle Menschen? Ein Minimalkonsens in der Selbst- und Fremdwahrnehmung? Ich bin mir nicht mehr sicher.

Zwölf Tage lang waren Unterstützer*innen und Freund*innen in den Gerichtssaal gekommen und um Raum zu greifen und Platz zu nehmen. Dank ihrer Anwesenheit war der Prozess zu ertragen, ertrugen sie ihn. Das macht stark.

„Angriffsparty“

Jetzt ist der Prozess – vorerst – beendet. Es wird in den nächsten Wochen und Monaten auch darum gehen, ob die Verteidiger*innen eine Revision erstreiten können. Bis dahin sind zwei der drei Täter auf freiem Fuß. Thomas P. kann heute in all seinem brutalen Habitus (der mehr ist als nur Fassade, soviel wissen wir sicher) weiter auf Nazi-Demos posieren. Seine Haftstrafe im Umfang von 18 Monaten muss er erst antreten, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Das kann Monate dauern. Pro Deutschland in Wuppertal? Thomas P. ist dabei, am 27. Februar, drei Wochen nach der Urteilsverkündung gegen ihn und die beiden Mitangeklagten. Genauso dabei, wie seinerzeit beim versuchten Angriff auf die Gedenkveranstaltung am 18. Januar 2015, dem Jahrestag des Sprengstoffanschlages auf ein Geschäft und seine Besitzer*innen in der Kölner Probsteigasse im Januar 2001. Ein versuchter Mord, der heute dem sog. Nationalsozialistischen Untergrund zugerechnet wird.

Genauso wie Thomas P. aktives Mitglied einer Whatsapp-Gruppe war, in der sich mindestens noch im Januar 2015 hundert Personen in einer Chatgruppe namens „Angriffsparty“ darüber verständigten, welche linken Projekte und Treffpunkte mit welchen Mitteln anzugreifen seien. Durch die Staatsschutzabteilung bei der Wuppertaler Polizei war die Ermittlungsakte in das laufende Gerichtsverfahren eingeführt worden. In Auszügen verlesen erlaubte die Akte den Einblick, dass der Staatsschutz schon im Januar 2015, zwei-einhalb Monate vor dem Messer-Angriff im AZ, von dem möglichen Angriffsziel, dem Autonomen Zentrum (AZ) Wuppertal, wusste. Ebenso wussten die Staatsschützer*innen, dass mindestens auch das Linke Zentrum Hinterhof in Düsseldorf in dem Chat-Gespräch als Ziel eines Nazi-Angriffes verhandelt worden war. Von der Möglichkeit von Anschlägen mit Sprengstoff war hier die Rede. Was in den weiteren Whatsapp-Gruppen unter den Namen „Antifafeier sprengen“ oder „Arische Rasse 88“ unter den Nazis ausgetauscht worden war, blieb im weiteren Prozessverlauf ungenannt. Deutlich aber wurde den Prozess-Beobachter*innen, dass die Polizei in Wuppertal bereits ab Ende Januar 2015 zweifelsfrei davon ausgehen konnte, dass das Autonome Zentrum an der Gathe/Markomannenstraße früher oder später von Neonazis angegriffen werden könnte.

Unklar blieb im Prozess, ob auch Rolf B. oder der Hauptangeklagte Patrick Petri Mitglieder dieser Chat-Gruppe(n) waren. Wie Thomas P. verließ auch Rolf B. nach der Urteilsverkündung am 2. Februar 2016 das Gerichtsgebäude als freier Mann. Eine Bewährungsstrafe von unter einem Jahr bekam der „Knecht“ des Trios, der als Mitläufer mit „verkorkster Jugend“ bei dem Angriff auf das Opfer dabei gewesen sei, wie der Richter in seiner Urteilsbegründung erklärte. Ein Fußball-Fan sei B., organisiert bei HoGeSa. Und: „Manche sagen“, so Richter Robert Bertling zum Strafmaß für den Angeklagten B., dass „HoGeSa der rechten Szene zuzuordnen“ sei. Und wenn nur „manche“ das sagen, muss es ja nicht unbedingt so sein – dieser Schluss schwebte im Raum, während der Vorsitzende Richter sein Urteil begründete.

Bei dem Haupttäter Patrick Petri, dem deutlich jüngsten der drei Täter, nahm der Richter eine „individuelle Tötungsabsicht“ als gegeben an. Das geschlossene rechte Weltbild Petris war hier auch dem Richter aufgefallen – vom Kassenwart einer Nazi-Partei über rassistisch motivierte Gewaltausbrüche gegenüber Mithäftlingen im Knast (Petri hatte noch kurz vor der Tat für 11 Monate wegen Körperverletzung ‚gesessen‘) bis hin zum „Kameradschafts“-T-Shirt, dass der Hauptangeklagte am Tatabend getragen hatte: Richter Bertling ließ durchblicken, dass er mitnichten an eine günstige Sozialprognose für Petri als geläuterten Nazi glaubte. Auch wenn dessen Verteidiger sich zuvor in seinem Plädoyer befleißigt hatte, seinem Mandaten einen Gesinnungswandel herbeizuattestieren: Prozess und Untersuchungshaft hätten seinem Mandanten Petri sehr zu denken gegeben. Dieser habe inzwischen „die Nase gestrichen voll von der rechten Szene“, schalte heute Radio und Fernseher ab, wenn dort „über Pegida[!]“ berichtet werde. Auch habe er in den letzten Monaten einen „Gesinnungswandel erlitten[!]“ – so der Anwalt in peinlicher Offenheit der Verteidigungs-Strategie, deren Vokabular an sich bereits so entlarvend einfach war, dass man laut schreien wöllte: „Du Idiot!“ Auch der dümmste Verteidiger konnte hier wenig ausrichten: Das Gericht verurteilte Petri zu 8 Jahren Freiheitsstrafe. Ein Teil davon ist bereits durch die Untersuchungshaft, in der Petri seit Mitte April 2015 sitzt, abgegolten. Und spätestens bei der Verkündung war es – was Petri betrifft – mit dem Mackertum vorbei: acht Jahre Knast – da können einem die Gesichtszüge schon einmal entgleiten, ein grimassenhaftes Grinsen kann eine Übersprungshandlung gegen Tränen sein. Und dies war auch das absolut einzige Mal, dass der Täter, der den Freund des AZ mit acht Messerstichen in Rücken, Seite und Hals angegriffen und beinahe ermordet hatte, aus dem Überheblichkeitsrahmen fiel. Für sein Auftreten hatte er sonst über alle Prozesstage hinweg eine andere, betont selbstsichere Visage gewählt, hatte noch am Vormittag allen Anwesenden den Mittelfinger gezeigt, während er sich mit der selben Hand die Kapuze seiner Jacke vor das Gesicht hielt.

Nach dem Prozess

Fassen wir an dieser Stelle zusammen: Der Haupttäter fährt, so denn das Gerichtsurteil rechtskräftig wird, für insgesamt 8 Jahre ein. Einen großen Teil der Zeit wird er in Untersuchungshaft verbringen – ein Bonus –, solange das Urteil noch nicht endgültig ist. Sein Anwalt wird, daran besteht kein Zweifel, mit all seiner geballten ‚Kompetenz‘ aufwarten, um eine Revision zu erwirken. Solange bleibt Petri in U-Haft, bequem, arbeitslos und ungestört. Thomas P., der mitten im Prozess in einer vorhersehbaren Verteidigungstaktik – so plump wie wasserdicht – die Hauptbelastungszeugin gegen ihn und die zwei weiteren Angeklagten heiratete und seitdem Thomas S. heißt, wird bis zum Haftantritt weiter als Neonazi auf der Straße aktiv sein. Die nun mit dem Schläger Thomas P./S. Verheiratete musste vor Gericht nicht mehr aussagen. Sie ist als frisch Verehelichte mit dem Angeklagten neuerdings verwandt und hat das Recht, zu schweigen. Der Angeklagte B. bleibt Befehlsempfänger und tut, was man ihm sagt. Vielleicht wird er irgendwann die Straf-Arbeitsstunden in der Wuppertaler „Tafel“ antreten – ein guter Ort für einen Neonazi, der eigentlich immer nur Fußballfan sein wollte und eine schlechte Kindheit hatte?

Die Strafen erscheinen uns unterschiedlich gerecht. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Patrick Petri die Tat im Kern begangen hat. Sein „individueller Tötungswille“ schien dem Gericht bewiesen. Seine unglaubwürdigen Einlassungen zu einer vorgeblichen Notwehr gegenüber einem vermeintlich angreifenden Opfer, das er dann unter Todesangst mit acht Messerstichen hätte abwehren müssen, fallen ihm nun auf die Füße. Der Richter sieht seine Einlassungen zu seiner Notwehrsituation als strategische Aussage an. Strafmildernd ist die Notwehr-Lüge nicht.

Ob Thomas P./S., den der Richter als „spiritus rector“, als lenkende Kraft ansieht, zugeschlagen oder doch eher zugetreten habe, blieb aus der Perspektive des Richters nicht hinreichend beweisbar. Die Aussagen derjenigen, die die Tat von der gegenüberliegenden Häuserzeile aus oder als Passant*innen wahrgenommen haben, blieben ihm vor Gericht zu vage. Ganz gleich, welches Körperteil bei der Einwirkung mit stumpfer Gewalt aber zum Einsatz kam: es sei gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, so Richter Bertling in seiner Urteilsverkündung. Thomas P./S. und Rolf B. seien beteiligt gewesen. Dass P./S. den Haupttäter mit einem Springmesser bewaffnet habe, ließ sich aus Sicht der Großen Strafkammer nicht zweifellos nachweisen. Rechtsanwalt Jan Eils, Verteidiger des ‚Anführers‘, führte in seinem Plädoyer aus, dass es keinen Beweis dafür gäbe, dass das Messer seinem Mandanten gehöre. Zuvor hatte der Strafrechtler bemerkenswert betont darauf hingewiesen, dass er kein „Szene-Anwalt“ sei. Er wird es als nötig empfunden haben, sich zu distanzieren.

Gesinnungslose Justiz und Polizei?

Jenseits des Urteiles und des Strafmaßes sind es aber vor allem zwei Dinge, die die Prozessbeobachter*innen umtreiben. Da ist zunächst die Gerichtspraxis am Landgericht Wuppertal und seiner Großen Strafkammer, die den Prozess führte. Vermeintliche Kleinigkeiten bleiben im Gedächtnis: So begegnete der Vorsitzende Richter einem Zeugen mit türkisch klingendem Nachnamen zunächst in „Ausländer-Deutsch“ mit der Frage, ob der Zeuge ihn verstehe – „Klar, kein Problem“, war dessen Konter im tiefsten Wuppertaler Platt. Alltagsrassismus, der einem/einer ja wohl mal passieren darf? Eine gewisse Komik der Situation lässt sich nicht verleugnen.

Doch für Humor war insgesamt wenig Anlass, vielmehr war Zynismus nötig, um die Vernehmungen auszuhalten. Bei verschiedenen Befragungen etwa bohrte der Richter gegenüber den Zeug*innen, die den Angriff als Passant*innen oder „Fensterzeug*innen“ gesehen haben können, immer wieder nach: „Action“ hätten sie nicht gesehen? „Sie sehen da nur ein Standbild, keine Action? Ein Stilleben? So: Blumenvase – Tulpe, und so?“ Jede Psychologie des Erinnerns missachtend (es ist durchaus üblich, dass Menschen sich an etwas sehr aufwühlendes ‚nur‘ in Standbildern erinnern) wählte Richter Bertling einen vorwurfsvollen Ton gegenüber den Zeug*innen und bemühte ein Vokabular, dass jeder menschlichen Regung, jeder Empathie entbehrte. Ging es doch nicht um eine zerschlagene Blumenvase, nicht um ein verdammtes Computerspiel, nicht um einen Kinofilm und auch nicht um eine „Rauferei“ – sondern um das Leben eines Menschen.

Wie begossene Pudel

Diese ‚Kleinigkeiten‘ waren schwer zu ertragen. Viel gravierender aber ist es, dass das Gericht konsequent dazu entschlossen war, den Prozess zu entpolitisieren, wo es nur ging. Es sei, so Richter Bertling bei der Begründung seines Urteils, völlig klar, dass das Gericht „in diesem Verfahren nicht über politische Meinungen oder Haltungen, sondern nur über die angeklagten Taten“ zu urteilen hätte. „Wir haben hier kein Gesinnungsverfahren durchgeführt“, fasste der vorsitzende Richter am letzten Verhandlungstag seine eigene Arbeit zusammen.

Als es schließlich um die Höhe des Strafmaßes ging, blieb von der richtigen Einschätzung, die Bertling (wie die Staatsanwaltschaft) über die Nazi-Persönlichkeiten der Angeklagten („spiritus rector“, geschlossenes rechtes Weltbild) entwickelt hatte, nichts mehr übrig. Staunend nahmen die Zuschauer*innen zur Kenntnis, wie der Vorsitzende Richter zwar das Motiv der Täter, sich überhaupt im AZ aufzuhalten, als politisch einordnete alles andere aber nicht. „Ausbaldowert“ hätten die Nazis den Ort des „politischen Gegners“, ihre Anwesenheit im AZ habe insofern auch den Plänen aus der Whatsapp-Gruppe entsprochen. Bis hierin, ließe sich der Richterspruch interpretieren: Handelten die Täter aus politischen Motiven – eben weil sie Nazi sind. Doch dann, so Richter Bertling, erscheint gegen 24 Uhr das Opfer. „Das war das Verhängnis dieses Tages.“ Denn der später Angegriffene erkennt die drei. Er weiß, dass sie Nazis sind und macht auf sie aufmerksam. Sie werden aus dem AZ herauskomplimentiert, der Angeklagte P./S. wird hierbei aggressiv, schreit irgendwann „Wir sind die Jungs von der HoGeSa“, prügelt auf einen Besucher des AZ ein und reißt ihn zu Boden. Sein Kamerad, der Knecht Rolf B., zieht ihn zurück. Die Situation scheint gelöst, als die umstehenden AZ-Gäste die drei Nazis auf den Bürgersteig vor dem Haus drängen können, die Tür schließen und verriegeln. Doch einer fehlt. Vor der Tür gelandet war auch jener AZ-Gast, der die drei Nazis zuvor erkannt hat. Als die AZ-Besucher*innen die Tür wieder öffnen, um ihren Freund vor der Tür zu suchen, haben die Täter ihn bereits lebensgefährlich verletzt. Im „Stiefelkreis“, wie ein Zeuge aus einem gegenüberliegenden Fenster gesehen hat, hätten die Angreifenden auf den am Boden liegenden eingewirkt. Acht Messerstiche verletzen ihn so schwer, dass nicht wenig gefehlt hätte, dass der Verwundete verblutet und erstickt wäre.

Das „Verhängnis“ ist also das Eintreffen des Opfers selbst, so wir dem Richter folgen wollen. Er wurde nicht niedergestochen, weil er Antifaschist ist, nicht weil er im AZ, einem linken Ort, sein Bier trank? Nicht, weil er ein Mensch mit Migrationsgeschichte ist? Ein linker ‚Ausländer‘? All das habe, urteilt der Vorsitzende Richter, für die Tat selbst keine Rolle gespielt. Ausschlaggebend dafür, dass Patrick Petri immer wieder zugestochen und die Mittäter das Opfer geprügelt und getreten haben, sei nicht der Hass auf ‚den Anderen‘, den Linken, den Kanaken. Gekränkte Eitelkeit sei es, etwas Persönliches also. Schließlich sei das Opfer derjenige gewesen, der die Angreifer erkannt, für ihren Rauswurf gesorgt habe: „Die drei waren gerade schwer gedemütigt worden. Man hatte die Tür hinter ihnen zugeschlagen. Sie standen also da wie begossene Pudel.“ In der Logik der Strafkammer, die diese Urteilsbegründung allen Ernstes im Gerichtssaal verlautbarte, ist der Mordversuch auf den Freund und Genossen also eine Beziehungstat. Ein Akt der gekränkten Eitelkeit. So elastisch muss eine gesinnungsfreie Justiz sein, will sie für einen lebensgefährlichen Nazi-Angriff ein Urteil machen, das alles Politische außen vor lässt. Dies zu hören macht traurig. Und wütend. Hier ist Justitia nicht auf dem rechten Auge blind. Das wäre zu erwarten gewesen, gewöhnlich quasi. Nein, es ist viel schlimmer: Justitia will nichts auf der rechten Seite sehen. Justitia trägt ein Monokel und guckt geradeaus. Bestenfalls.

Täter-Opfer-Umkehr im Gerichtssaal

Nehmen wir Richter Bertling und seine Entpolitisierung der Tatmotivation ernst und denken seine Logik zu Ende, müssten wir künftig Nazis, die in unsere autonomen Zentren und unsere linken Orte eindringen, dort belassen und dulden. Schließlich könnte sich aus einem Rausschmiss eine Beziehungstat entwickeln. Ein Verhängnis also.

Bemerkenswert wird diese Deutung des Gerichtes dann allerdings noch einmal mehr, wenn wir uns an die Befragung von Zeug*innen aus dem Kreis der Besucher*innen des AZ erinnern. Bohrend, unfreundlich, aggressiv und autoritär war der Ton des Richters, sobald die Schmuddelkinder auf dem Zeug*innen-Stuhl saßen. Ganz genau wissen wollte Richter Bertling von ihnen auch, was nach dem Angriff passierte. Denn die Polizei hatte in ihren Pressemitteilungen wiederholt berichtet, dass die Besucher*innen des AZ ihnen und den Rettungskräften des notärztlichen Teams den Eintritt verwehrt hätten. Schlagstock und Pfefferspray hätten zum Einsatz kommen müssen, so die Polizei.

Die vor Gericht Befragten mussten zu diesem Zusammenhang aber nur so lange Rede und Antwort stehen, bis ein Rettungssanitäter, der bereits Minuten vor der Notärztin den ins AZ geborgenen, lebensgefährlich Verletzten zu versorgen begonnen hatte, aussagte. Er sei „im six pack“ in das Gebäude gegangen, zusammen mit seinem Sanitäter-Kollegen und vier Streifenwagen-Polizisten. Inständig gebeten, herbeigesehnt, gedrängt, doch endlich hineinzugkommen, hätten dieAZ-Besucher*innen ihn. Dass die Polizeieinsatzleitung wenig später befahl, dass „alle Rettungskräfte raus!“ sollten, habe er, der Ersthelfer, nicht verstanden. Es sei mit Eigengefährdung argumentiert worden. Die Einsatzleitung habe angegeben, nicht wissen zu können, ob es drinnen, im AZ, zu weiterer Gefährdung kommen könnte, ob die Täter vielleicht sogar noch im Gebäude wären. Er, der Sanitäter, begleitet von vier Streifenbeamten, die im Gebäude die selben Eindrücke haben gewinnen können, wie er, habe sich allerdings zu keinem Zeitpunkt bedroht oder auch nur in seiner Aufgabe, Leben zu retten, behindert gefühlt.

Mit der Aussage des Sanitäters, der zuvor nicht ein einziges Mal von der Polizei befragt worden war und seine erste Aussage nun vor Gericht machte, endete Richter Bertlings Neugier über die Abläufe nach dem Angriff. Von diesem Moment an verzichtete er hierzu auf jede weitere Befragung, ganz gleich, wer auf dem Zeug*innen-Stuhl saß. Die Aufklärung, was nach dem Angriff passiert sei, tue ja auch nichts zur Sache, schließlich gelte es, den Angriff zu beurteilen. Vor der Aussage des Sanitäters war ihm diese Zuspitzung seiner eigenen Aufgabenstellung noch nicht so wichtig gewesen. Nun, da nach der gewichtigen Aussage des Rettungssanitäters klar war, dass die Polizei mit vier Mann von Anfang an im AZ gewesen war, als die ersthelfenden Rettungskräfte bei dem Verletzten waren, war offenbar hier nichts mehr zu holen. Die Geschichte von der Eigengefährdung, die es für die Polizei erforderlich gemacht hätte, gegen die AZ-Besucher*innen, die ihnen die Tür versperrt hätten, vorzugehen, war somit für das Gericht erledigt.

Storyteller Polizei

Für die Polizeipräsidentin von Wuppertal hingegen scheinen Prozess-Inhalte keine Rolle zu spielen. Sie ordnete nach Prozessende weder an, die Polizei-Pressemitteilungen, die bis heute davon erzählen, dass AZ-Besucher*innen lieber die Polizei bekämpft hätten, als ihren Freund zu retten, im Presseportal der Polizei NRW zu löschen. Noch ließ sie sie korrigieren. In einem Interview mit dem WDR tischte sie stattdessen eine weitere, wiederum ganz andere Geschichte auf: Die Notärztin, die nach den Rettungssänitätern vor Ort eingetroffen sei, sei verantwortlich für die polizeiliche Räumung des Flures, in dem der Verletzte lag. Verantwortlich dafür, dass die ersthelfenden Rettungskräfte abgezogen wurden. Im Gerichtssaal hatte sie, die Notärztin, in ihrer Schilderung des Tatabends aus ihrer Perspektive indes nichts dergleichen geäußert. Wäre es doch auch äußerst unüblich, dass eine Notärztin bei einem Einsatz die Lageeinschätzung macht und die Arbeit der Polizei-Einsatzleitung übernimmt.

Aber mit der Rollen-Verteilung scheint es Polizeipräsidentin Brigitta Radermacher ohnehin nicht so genau zu nehmen. Bereits einen Tag nach dem Angriff in der Nacht auf den 11. April 2015 hatten Besucher*innen des AZ bereits Ladungen zur Polizei im Briefkasten: als Beschuldigte. Der ihnen vorgeworfene Delikt: versuchter Mord. Und auch am 21. April, eine Woche, nachdem der Täter, Patrick Petri, bereits gefasst war, bekamen andere Gäste des AZ immer noch Ladungen gleichen Inhalts. Dass die Polizei mit diesen falschen Anschuldigungen absolut danebenlag – und das selbst auch genau wusste – veranlasst im Wuppertaler Polizeipräsidium jedoch bis heute niemanden, eben diese Anschuldigungen gegen Besucher*innen des AZ, die sie auch in den Polizei-Pressemitteilungen der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben hatten, offiziell zurückzunehmen. Die Presse schrieb derweil die Pressemitteilung aus dem Polizeipräsidium ungeprüft ab. Allein die Wuppertaler Rundschau fragte kritisch nach: Nach Ende des Prozesses kam auf Nachfrage eines Rundschau-Journalisten heraus, dass die Ladungen gegen die Besucher*innen des AZ durch einen Computerfehler falsch ausgestellt gewesen sein sollen. Nicht „versuchter Mord“, „Widerstand gegen Polizeibeamt*innen“ soll das Delikt gewesen sein, wegen dem die Polizei die zu Unrecht Beschuldigten hätte hören wollen. Behauptet die Polizei-Führung in Wuppertal doch allen Ernstes, in der Sachbearbeitung habe man sich beim „Copy“ and „Paste“ vertan? Hier bestätigt sich, was wir alle wissen: Die Polizei ist nicht auf dem rechten Auge blind, die Polizei hat nur ein Auge. Die Täter stehen rechts, die Polizei schielt nach links. Was soll ein Zyklop anderes tun?

Augen auf!

Viele Details zur Polizei- und Justiz-Arbeit ließen sich ergänzen. Das Bild, das vor allem die Polizei abgab, hängt gewaltig schief. Das Gericht verhält sich Trend-gemäß, politisch motivierte Straftaten von rechts als unpolitische Gesetzesübertretungen zu werten. Beide, Polizei und Justiz, sorgen dafür, dass linke Strukturen ohne Richtigstellung bis heute als diejenigen wahrgenommen werden, die lieber einen Freund verbluten lassen, als eine Schlacht mit ‚den Bullen‘ auszulassen. Die Polizei hat falsche Anschuldigungen formuliert, die Beschuldigten die volle Macht der Ermittlungshoheit spüren lassen und sich nie dazu herabgelassen, den ‚Fehler‘ öffentlich zu korrigieren oder sich im Zwiegespräch zu entschuldigen. Und das, obwohl der Staatsschutz der Polizei seit Ende Januar wusste, dass Nazis das AZ angreifen wollten!

Die Justiz hat ihrerseits nun, fast ein Jahr nach der Tat, in ihrem Urteil aus Nazis gekränkte Männer gemacht. In den Augen des Gerichtes kann ein Mordversuch auch ein Verhängnis sein. Und eine politisch motivierte Tötungsabsicht scheint es auch in der Variante „schicksalhaft“ zu geben.

Die Ermittlungen und den Prozess Revue passieren zu lassen, kann uns bitter machen. Traurig und wütend. Wichtiger aber ist, dass wir auch wacher werden können. Wacher gegen Nazis, wacher gegen jeden Beißreflex von Polizei und Justiz gegenüber Linken. Aufmerksamer aber auch für uns selbst, für unsere Stärke, für unser Zusammenstehen und unsere (politische) Freundschaft.

Der Angriff auf den Freund und Genossen war für alle, die dort waren, die die Prozesstage erlebten, die ihm und einander in der Zeit nach dem Angriff solidarisch zur Seite stehen, den Alltag herstellen, alle Kraft und allen Mut zusammenbringen, sich dem Erlebten zu stellen, eine lebenslang prägende Erfahrung. Für den Angegriffen selbst hat der Abend eine Welt verändert. Es bleiben Schmerzen, Erinnerungen, Fragen. Wir wünschen Dir und Euch von ganzem Herzen, dass die Wunden heilen.

Haltet zusammen! Alerta Antifascista!

FANNY SCHNEIDER


Heraus zum dreißigsten Autonomen 1. Mai (der Neuzeit)

An den diesjährigen Mai-Feier- und Kampftagen ist in Wuppertal einiges geplant: Vom 29. April bis zum 1. Mai (für Pennplätze und Abendunterhaltung wird gesorgt). Am Sa., 30.04, Nachttanzdemo unter dem Motto „Spaß muss sein! – Kapitalismus nicht!“ und am Sa. 01.05. die große autonome 1. Mai Demo: „Die Rückkehr” um 14 h. Dazwischen ist noch viel Platz für Kreativität und Aktion.

Vor 30 Jahren zog zum ersten Mal die autonome 1. Mai Demo durchs Tal (der Wupper), sie bog links vom DGB ab, um einen radikalen Ausdruck auf die Straße zu tragen. Seither gehört auch das Fest auf dem Schusterplatz dazu. In den letzten Jahrzehnten ist viel passiert, aber die Gewerkschaften haben sich nicht zum Besseren gewandelt und die Verhältnisse lassen zunehmend frösteln. Die autonome 1. Mai Demo ist alles andere als ein Relikt sondern Teil der autonomen, anarchistischen und undogmatischen Versuche in Wuppertal beim Kampf für das gute Leben.

Im letzten Jahr hat der mörderische Angriff dreier HoGeSa–Nazis auf einen Freund des Autonomen Zentrums in Wuppertal Spuren hinterlassen. Doch werden wir uns nicht unterkriegen lassen. Die Täter wurden benannt und die Bullen dabei nicht ausgespart und letztlich wurde doch für etwas Wirbel in der Stadt gesorgt.

Aber: es müssen noch mehr werden, die die Verhältnisse nicht hinnehmen, die Nazis und Bullen effektiv in Wort und Tat entgegentreten, erst ein Anfang ist gemacht! Das Erstarken der Nazis und das strukturell rassistische und antiemanzipatorische Agieren der Repressionsbehörden sind untrennbar von den gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen.

Klar im Fokus der Mobilisierung steht die beeindruckende Bewegung der Geflüchteten, die entschlossen gegen die Festung Europa kämpft. Was können wir weiter und intensiver tun, um dieser Bewegung vom Inneren der Festung aus entgegenzukommen, um gemeinsam die Grenzen nieder zu reißen!

Vorläufige Terminübersicht:

(weitere aktuelle Infos unter https://autonomer1mai.noblogs.org)